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An solchen Fragen können Freundschaften zerbrechen. Also weigere ich mich, darüber zu diskutieren, ob es richtig, fair, nachvollziehbar oder unvermeidlich war, dem Äthiopier Derara Hurisa (im Bild) vergangene Woche beim Vienna City Marathon den Sieg ab- und ihn dem Kenianer Leonard Langat zuzusprechen.

Zur Erinnerung: Hurisa war wenige Sekunden vor Langat über die 42-k-Ziellinie geflogen – und eine halbe Stunde später disqualifiziert worden, da sein Schuh nicht dem Reglement entsprach. Hurisas Sohle war um einen Zentimeter zu dick.

Die Debatte war unvermeidlich: wie kleinlich das sei. Dass da eine Läuferkarriere durch Bürokratie und Funktionärs-Pipifax beschädigt werde. Dass die Interessen von Sponsoren, Verbänden und Industrie über der Leistung, den Werten des Sports stünden … und so weiter.

Foto: Reuters/Foeger

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Meine Meinung? Regeln sind Regeln, und die wurden nicht nach, sondern vor dem Lauf definiert und kommuniziert. Dass ein Läufer versehentlich den falschen Schuh nimmt? Blöd. Aber das darf nicht zum Nachteil derer werden, die diesen Fehler nicht machen. Darum ist es auch egal, ob da der Läufer – ein Profi – oder sein Manager/Trainer patzte.

Solche Fragen kann man aber nicht bis zu einem Kompromiss durchdiskutieren, sondern nur mit Ja/Nein beantworten. Darum fruchten "Was hätte man vorher sollen"- und "Wem geschieht mehr Unrecht"?-Debatten nichts.

Auch weil de facto niemand berechnen kann, was dieser Zentimeter mehr (oder: zu viel) an diesem Lauf veränderte. Fix ist aber, dass Carbon-Inlays signifikant schneller machen – und es genau deshalb Grenzwerte für die Sohlendicke gibt.

Foto: Reuters/Foeger

Statt zu diskutieren, nutze ich den Eklat daher für ein paar kurze (und bewusst subjektive) Schuhrezensionen.

Gerade weil da im Zuge der VCM-Carbon-Sohlen-Debatte wieder ein paar zentrale Fragen auftauchten. Die erste, wie und wieso Carbon-Inlays schneller machen, wurde in den letzten Tagen hinlänglich (und davor mehrfach – etwa hier und hier) erläutert.

Deshalb nur kurz: In der Sohle eingearbeitete Carbon-Platten oder -stäbe funktionieren wie kleine Katapulte – beim Aufsetzen werden sie komprimiert oder gestaucht, also "geladen". Beim Abdruck beschleunigt die Feder den Läufer oder die Läuferin dann.

Foto: Tom Rottenberg

Die andere Frage ist aber ein wenig komplexer, weil nicht einfach mit Physik und "Zack & Boing" beantwortbar: Bringt dieser Katapulteffekt auch "Normalos" etwas?

Auch wenn sich viele Expertinnen und Experten (meist mit Leistungssportbackground) da auf ein "Nein, das bringt nur schnellen Läuferinnen und Läufern was" verständigten, halte ich dagegen: "Doch, das bringt sogar mir, einem wahrlich nicht schnellen Läufer, was. Aber es gibt fette Aber." (Und ich klammere jetzt Preise von bis zu 280 Euro bei Lebenszyklen von 300 Kilometern bewusst aus: Es gibt Leute, denen das vollkommen egal ist.)

Nehmen wir beispielsweise Asics Metaspeed Sky: Der ist so leicht, dass ich beim ersten In-die-Hand-Nehmen glaubte, zumindest die Innensohle sei vergessen worden. Mitnichten: Der wiegt echt nix. Und den "Bumms" des Schuhs spüre dann auch ich, sobald ich vom Komfort-Trab ins engagierte, sportliche Laufen wechsle.

Das Aber? Der Schuh ist so leicht, dass ich darin "wegschwimme", sobald ich nicht supersauber laufe. Und weil das Carbon "Bumm-Zack" richtig anstrengt, wird so bei mir nach höchsten zehn Kilometern der Bonus zum Malus.

Foto: Tom Rottenberg

Das Gleiche gilt beim On Cloudboom Echo: den bewerben die hippen Schweizer als "ultraleichten Schuh für schnellste Marathons und Straßenrennen". Ich fühlte mich mit ihm auf Anhieb wohl (so sehr ich On-Schuhe am Trail oder als Sneaker liebe, so ambivalent war mein Verhältnis zu ihnen lange auf beim Straßenlauf).

Einen engagierten Halbmarathon, eventuell beim Dreiländer-Marathon im Oktober, traue ich mir mit ihnen zu. Allerdings spürte ich am Tag nach einem zügigen 20-k-Dauerlauf meine Beine doch stärker als sonst. Aber einen ganzen? Oder auch "nur" einen Halben, den ich mit Genuss statt mit vollem Ehrgeiz laufe? Da setze ich doch lieber auf Komfort.

Foto: Tom Rottenberg

Die Erfahrung gibt mir recht: Sowohl den Laufpart der Mitteldistanz des Triathlons in Podersdorf als auch die VCM-Halbdistanz die Woche drauf lief ich ja genau deshalb mit einem Klassiker: dem Saucony Ride 14 – ich war damit bestens bedient. Der Schuh ist – wichtig: für mich und meine Art zu laufen! – perfekt gedämpft, er stützt und führt, wo und wie ich es brauche, und lässt mich ermüdungsfrei "ewig" laufen.

Foto: Tom Rottenberg

Ich nenne Schuhe wie den Ride herstellerunabhängig Golfklasse: Es gibt sie von jeder Marke, sie liegen preislich meist im Mittelfeld. Sie zu laufen ist – solange der Schuh, seine Passform und seine Stütze zum eigenen Fuß und Laufstil passen – unproblematisch. Und sie halten lange.

Bei New Balance heißt die Golfklasse unter anderem 880, bei On Cloudstratus, bei Brooks Levitate. Um nur drei von sehr vielen anzuführen. Sie sind ideale Allrounder, mit denen man (so sie passen) wenig falsch machen kann.

Nur darf man von ihnen halt nicht jenen "Bumms" erwarten, den ein Temposchuh verspricht.

Foto: Tom Rottenberg

Wenn man aber uuuunbedingt Carbon laufen will? (Und das wollen gerade sehr viele Leute.)

Klar geht das. Man müsste es nur ordentlich trainieren – und das tut kaum wer. Rene Bauer (Saucony-Österreich) drückte mir dafür den Endorphine Shift 2 in die Hand. Auf den ersten Blick ist der vom Carbon-Boliden Endorphin Pro 2 nicht zu unterscheiden – allerdings fehlen die Carbon-Inlays.

Was das soll? Um den Katapulteffekt optimal nutzen zu können, sind Carbon-Schuhe anders geformt. Die Rundung der Sohle hilft, beim Auftreten nach vorne abzurollen. "Speedroll" heißt das bei Saucony, vermutlich hat jede Marke dafür eigene Vokabel. Diese Rollbewegung gehört aber mit zu dem, was Beine belastet – und ungeübte Normalos somit verletzungsanfällig macht.

Bauer: "Nimm den Shift fürs Training, den Pro für den Wettkampf."

Ich: "Macht 150 Euro plus 220 Euro – na Servas."

Bauer: "Stimmt. Aber wer für Marathon & Co trainiert, hat mehr als ein Paar Laufschuhe."

Foto: Tom Rottenberg

Bauer hat natürlich recht. Denn es macht auch ohne Carbon-Debatte Sinn, verschiedene Schuhe zu laufen. Weil unterschiedliche Schuhe dem Fuß immer unterschiedliche Reize liefern – und er davon profitiert.

Und: Nein, das ist kein Widerspruch zur fachkundigen Schuhberatung im spezialisierten Fachhandel.

(Einschub: Ja, es gibt in den großen Ketten sicher enorm viele brillante Laufschuhverkäuferinnen und -verkäufer – es liegt an mir, dass ich sie nie antreffe. Einschub Ende.)

Längst gibt es für jeden Laufstil, jedes Gewicht, jede Fuß- und Beinstellung individuell richtige Schuhe für jedes Tempo, jede Distanz und jeden Untergrund. Die individuell jeweils richtige Kombination zu finden braucht aber neben Expertise auch Zeit. Die muss man sich halt nehmen. Und eines wissen: Lauftechniktraining kann und soll auch der beste Schuhe nicht ersetzen – aber das ist ein anderes Thema.

Foto: Tom Rottenberg

Das Ernüchternde an der Suche nach dem einzig wahren Schuh ist aber die Erkenntnis, dass es ihn nicht gibt. Was für mich super ist, kann für Sie gar nicht funktionieren. Ein Beispiel?

Seit mein Freund Ed "Traildogrunning" Kramer Barbara den Salomon Predict 2 nach eingehendem Probieren gab, schwört sie auf der Straße auf diesen "und sicher so bald keinen anderen" Schuh. Gut so.

Ich bekam den Predict 2 vom Hersteller: Eh okay. Ein flotter Allrounder. Aber kein "Wow"-Schuh, der mich jubeln ließ.

Ganz im Gegensatz zu Brooks Hyperion Tempo: In den verliebte ich mich beim ersten Reinschlüpfen. Der "reaktionsschnelle Trainingsschuh" für "harte Workouts" ist für Tempoläufe einer meiner Favoriten. Barbara probierte ihn auch – und schüttelte sofort den Kopf.

Welcher der beiden Schuhe ist also "besser"? Eben.

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Genau deshalb ist Beratung, ist probieren, sind Analyse und Lauftechnik, wichtig. Gerade bei Neu- oder Wiedereinsteigerinnen und -einsteigern: Erfahrene Läuferinnen und Läufer mit sauberer Technik "derrennen" vermutlich jeden Schuh. Oder spüren rasch, was wann wo und wie funktioniert – und was nicht.

Deshalb können sie sich auch auf Experimente einlassen, die "Newbies" relativ rasch überfordern – und sie dann frustriert mit dem Gerenne wieder aufhören lassen, bevor es überhaupt richtig Spaß zu machen begann.

Nicht weil ein Schuh "schlecht" ist – sondern weil er nicht der Richtige ist. Und natürliches Gehen, gesundes, intuitives Laufen oft verlernt haben. Weil wir falsche Bewegungsabläufe so internalisiert haben, dass wir oft gar nicht mehr anders können. Jedenfalls nicht ad hoc.

Foto: Tom Rottenberg

Schuhe von Altra fallen für viele in diese Experimentkategorie: Sie zu laufen muss man lernen. Denn die erst 2011 auf den Markt gekommene US-Marke setzt auf Features und Formen, die anderswo rar sind.

Wieso? Die meisten Hersteller bieten genau das an, was der Durchschnitt als "Laufschuh" kennt und erwartet. Weil der oder die "Normalo" läuft, wie er oder sie läuft: meist voll auf die weit vor den Körperschwerpunkt geworfene Ferse. Weil das ohne Polsterung wehtut, baut man fette "Sofas" in die Schuhe ein. Aber wozu lädt so eine Fersendämpfung ein? Erraten.

Dieser Henne-Ei-Problematik mit Schuhen zu begegnen, die – brutal verknappt gesagt – nicht nur das Fußgewölbe sich selbst wieder zu stützen lehren, sondern auf das "Sofa" verzichten und Ferse und Zehe auf gleiche Höhe legen, ist mutig. Und nicht mehrheitsfähig.

Foto: Tom Rottenberg

Aber wenn man sich drauf einlässt, ist so zu laufen "rewarding". Denn Altras schneller, leichter Escalante und der solide Rivera zeigten mir, wie lehrreich es ist, gut einstudierte (Bewegungs-)Muster zu hinterfragen – und auszuprobieren, was passiert, wenn man sie aufbricht. Das ist spannend.

Beim Laufen – egal ob mit Carbon-Inlays oder beim Versuch, Grundformen des Laufens wieder zu lernen –, aber eben nicht nur da. (Tom Rottenberg, 21.9.2021)

Hinweis im Sinne der redaktionellen Richtlinien: Die beschriebenen Schuhe wurden fast alle von den Herstellern zur Verfügung gestellt.

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Foto: Tom Rottenberg