Der Kohlmarkt in der Wiener City ist eine stark frequentierte Fußgängerzone voller Nobelgeschäfte. Am 3. Juni bahnte sich ein Pensionist mit seinem Wagen einen Weg durch die Massen, nur durch Zufall wurde niemand verletzt.

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Wien – "Es ist ein Glück, Zufall, Wunder, dass niemand verletzt wurde", sagt einer der Zeugen im Prozess gegen Christian H. dem Schöffensenat unter Vorsitz von Magdalena Klestil-Krausam. Der Satz fasst den Vorfall am Nachmittag des heurigen Fronleichnamtages tatsächlich recht gut zusammen: Der 56-jährige Angeklagte fuhr mit seinem Auto nämlich zunächst durch die Menschenmengen in der Fußgängerzone Kohlmarkt und lieferte sich anschließend im Stadtgebiet eine Verfolgungsjagd mit teils über 100 Kilometern pro Stunde mit der Polizei, ehe er gestoppt werden konnte.

"Ohne Alkohol wäre das nicht passiert", gesteht H.s Verteidigerin Astrid Wagner zu. Die 0,94 Promille, die bei ihrem Mandanten nach der Festnahme gemessen wurden, sind aber nicht der Hauptgrund der "Wahnsinnsfahrt", wie Klestil-Krausam die Aktion bezeichnet. Der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann ist überzeugt, dass die langjährige psychiatrische Erkrankung des Angeklagten die entscheidende Rolle spielte.

Ziellos durch die Stadt gefahren

Der unbescholtene Pensionist selbst bekennt sich schuldig, kann aber nicht wirklich viel sagen. Er habe damals bei sich zu Hause ein paar Bier getrunken, "dann wollte ich noch eine Runde fahren", erklärt er. Er sei ohne Ziel herumgekurvt, in der Innenstadt habe er sich nach seiner Darstellung dann verfahren und sei plötzlich in der Fußgängerzone Tuchlauben gestanden.

"Ich bin dann ganz langsam weitergefahren. In Schrittgeschwindigkeit" – er fuhr in den Kohlmarkt ein. "Dann habe ich hinter mir ein Polizeiauto gesehen, die letzten 50, 100 Meter habe ich dann beschleunigt und bin vielleicht so 30 km/h gefahren." – "Warum sind Sie nicht einfach stehengeblieben?", fragt die Vorsitzende. "Das ist meine Schuld", bleibt der Angeklagte vage. Statt der Bremse betätigte er im Gegenteil ab dem Michaelerplatz ordentlich das Gaspedal und raste durch die innerstädtischen Bezirke, ehe er durch eine Straßensperre mittels zweier Busse der Wiener Linien in der Magdalenenstraße in Wien-Mariahilf nicht mehr weiterkam.

Koran auf dem Beifahrersitz

"Haben Sie gesehen, dass Menschen zur Seite springen mussten?", fragt die Vorsitzende auch. "Direkt vor meinem Auto habe ich niemanden gesehen", behauptet der Angeklagte. Ein weiteres seltsames Detail interessiert Klestil-Krausam: "Warum hatten Sie auf dem Beifahrersitz einen Koran liegen?" – "Ich interessiere mich für verschiedene Glaubensrichtungen. Aber ich bin durch und durch Christ." Als solcher hat er vielleicht auch auf göttlichen Beistand vertraut. Denn auf die Frage, warum er bei der Verfolgung durch mehrere Polizeiwagen nicht aufgab, antwortet H.: "Ich war vermeintlich in dem Glauben, dass ich davonkommen kann."

Die an der Amtshandlung beteiligten Polizisten schildern die Angelegenheit deutlich dramatischer, ein Fußgänger auf der Linken Wienzeile habe sich tatsächlich nur noch durch einen Hechtsprung vor L. retten können. Ein erster Anhalteversuch durch eine Fußstreife sei gescheitert, da der Angeklagte plötzlich die Geschwindigkeit erhöht hatte. Interessanterweise erkannte einer dieser Beamten L. sogar, da er in den drei Monaten davor zweimal vom angetrunkenen Angeklagten angesprochen worden war. Einer der Polizisten, die bei der Festnahme dabei war, erinnert sich, dass L. die Sache eigenartigerweise amüsant zu finden schien: "Er hat gesagt, er hat nur ein paar rote Ampeln überfahren, und normalerweise fahre er mit 1,8 Promille."

Seit 30 Jahren wegen bipolarer Störung in Behandlung

Für den psychiatrischen Sachverständigen Hofmann ein Hinweis darauf, dass es sich um eine "hypomanische Entgleisung" handeln könnte. Seit fast 30 Jahren leide L. an einer bipolaren Störung, die auch medikamentös behandelt werde. Dazu sei der Angeklagte eine Suchtpersönlichkeit, die drei bis vier Packungen Zigaretten und bis zu zehn Bier täglich konsumiere. Bei der Erstellung der Expertise vor drei Monaten ging Hofmann noch davon aus, dass L. besser in eine Anstalt eingewiesen werden sollte, da er im Straßenverkehr eine Gefahr darstelle.

Nun ändert er seine Meinung: Da der Angeklagte seit der Festnahme in Untersuchungshaft sitzt, er auf die Behandlung dort gut anspricht und das Auto mittlerweile verkauft ist, zieht der Sachverständige seine Empfehlung für eine Einweisung zurück. Da L. bisher nie durch andere Gewaltformen auffällig geworden sei, sieht Hofmann eher eine Fixierung auf das Auto.

Stattdessen plädiert er für Weisungen: L. sollte eine ambulante Therapie machen, dazu einen Alkoholentzug und dem Gericht quartalsweise durch einen Bluttest nachweisen müssen, dass er keinen Alkohol mehr konsumiert. Der Angeklagte wäre mit diesen Auflagen einverstanden.

Der Senat spricht diese also zusätzlich zu einer zweijährigen bedingten Haftstrafe aus. "Sie hatten mehr Glück als Verstand, dass niemandem etwas passiert ist", sagt Klestil-Kraumsam noch in der Begründung des rechtskräftigen Urteils. (Michael Möseneder, 21.9.2021)