Dienstag, 7. September, Konferenz: Die ersten Kolleginnen und Kollegen brechen in Tränen aus. „Was ist eine CSV-Datei? Wie sollen wir das machen? Was heißt umformatieren? Ich kann das nicht!“ Jahrzehnte der vernachlässigten digitalen Kompetenz brechen nun auf sie herein, wie eine Lawine, ein Erdbeben oder ein Tsunami. 

Ein neues Schuljahr, ein neuer Herbst, ein neues Chaos. Wie schon im letzten Jahr spüren wir als Lehrkräfte, dass die Regierung im Sommer besseres zu tun hatte, als ein funktionierendes Sicherheitskonzept für die knapp eine Million Schülerinnen und Schüler zu erstellen – sie dürfen ja eh noch nicht wählen. 

Zwei Stunden spülen, zweimal die Woche

Jetzt wird gespült. Zweimal wöchentlich über eine Plattform, die nur für wenige tägliche Nutzer und Nutzerinnen konzipiert war. Das Anmelden ist eine Geduldsprobe, nur jede vierte Anfrage führt zur nächsten Seite. Dass unsere Schülerinnen und Schüler mit zehn oder zwölf Jahren selten ihre E-Card mit sich führen, geschweige denn ihren Reisepass oder Personalausweis, dass viele von ihnen weder Handy noch eine funktionierende Kamera haben, sind Nebensächlichkeiten. Dass wir von den Eltern irgendwann mal die nur in Deutsch ausgesandten Einverständniserklärungen unterschrieben zurückbekommen – unser Problem. 

Dass wir im Unterricht nun montags und mittwochs mit drei Kolleginnen und Kollegen gut 120 Minuten benötigen, die wir gerne auch mit dem Aufholen der verpassten 1,5 Jahre verbringen würden, um 25 Kindern beizubringen, wie man durch einen Pappstrohhalm in ein Plastikröhrchen spuckt – who cares? Längst sind wir keine Pädagoginnen und Pädagogen mehr, die sich um die Zukunft des Landes kümmern sollten, sondern Betreuende (Lockdown zwei und drei für die Kinder, die zuhause nicht lernen können), Pflegekräfte (die sich gerne die Naseninhalte der Schülerinnen und Schüler zu Gemüte führen, Antigentest in 2020/2021) und medizinisches Personal (PCR- und Nasenbohrertest Schuljahr 2021/22). Im Vergleich zu den gut geschützten Testpersonen in Teststraßen und Apotheken sehen wir im Klassenzimmer auf engstem Raum mit quantitativ begrenzten Papierhandtüchern etwas erbärmlich aus. Aber was soll’s?

Die PCR-Tests kosten den Lehrkräften extrem viele Stunden, die für den Unterricht fehlen.
Foto: imago images/SEPA.Media/Martin Juen

Ein feindliches System

Der Effekt lässt nicht lange auf sich warten. Die meisten Klassenvorstände haben mittlerweile 10 bis 15 ihrer Freizeitstunden geopfert, sieben Datensätze von 25 Kindern in ein ständig überlastetes System eingegeben (Name, aber ohne Umlaute, bitte!), Vorname, Adresse (aber bitte ohne Bindestrich und Schrägstrich – blöd nur, dass unsere Kinder alle 61-96/41/7 wohnen und die Namen aus Umlauten bestehen), Sozialversicherungsnummer (leider wurde hier für geflüchtete Kinder irgendwann der 13. Monat eingeführt, um von dem ständigen 01.01. wegzukommen und so sind die Sozialversicherungsnummern mancher unserer Kinder XXXX011309, welche aber im System nicht auszuwählen sind – noch hat das österreichische Bürokratiejahr keinen Monat 13, die Kinder sind aber klar stigmatisiert fürs Leben), E-Mail-Adresse, aber bitte nicht die der Kinder unter 14 Jahren, deppert, dass die Eltern oft keine haben, Postleitzahl, Ort, Geburtsdatum – bitte in Übereinstimmung mit der Sozialversicherungsnummer.

Die Mails, die ich an den Support von Lead Horizon sende, kommen mit „unzustellbar“ zurück, die Dame, die ich irgendwann über die Hotline erreiche, bietet mir sehr freundlich an, dass ich ihr die Datensätze zusenden könne – was mich als Lehrerin aber den Job kosten könnte, da ich Kinderdaten nie weitergeben darf, und zum Geburtsdatumsproblem meint sie: Hm, das habe sie aber noch nie gehört, ich könne ja einfach eines erfinden. Welcome to my reality – Mittelschule Wien. 

In den ersten fünf Schultage gab es sechs positive Fälle, vier Klassen waren in Quarantäne – und die Schulen im Westen hatten noch nicht mal angefangen.

Wir testen also weiter. Mal mehr mal minder erfolgreich im Erreichen der Plattform. 

Völlig überfordertes System

"Code 428 Too many requests"! Wirklich? Womit habt ihr denn gerechnet? Wenn sich eine Million Menschen aus dem Schulsystem gleichzeitig am Montag- und Mittwochmorgen testen lassen müssen? Wir stehen also eine halbe Stunde früher auf, in der Hoffnung, dass um fünf Uhr morgens noch ein Slot für uns frei ist, in den Klassen dauert es weiterhin knapp zwei Stunden, die Boxen in der Schule werden um 8:45 Uhr geleert, weshalb wir um zehn Uhr zum Bipa um die Ecke hechten.

Und dann gibt es noch die ungeimpften Kolleginnen und Kollegen, diejenigen, die beim ersten Covid-19-Fall K1 sind und in Quarantäne müssen, während die Geimpften zur Belohnung in der Schule Stellung halten dürfen. Mit den zwei bis fünf geimpften Kindern.

Wer sich dieses System ausgedacht hat, stand noch nie in einer Klasse. Wer hier zugestimmt hat, ist dem österreichischen Bildungsalltag so fern, wie ein Alm-Öhi einer Kreuzberger Späti-Cornersession. Wie ein Binnensegler einer Atlantiküberquerung. 

Ja, wir lernen derzeit in der Schule. Wir lernen, dass wir immer als Letzte drankommen. Dass sich niemand so richtig um die Kinder schert. Dass der Bildungsminister in seinem akademischen Elfenbeinturm jeglichen Bezug zur Realität verloren hat und wir das unseren Kindern erklären müssen. Und die Kinder lernen auch. Dass ihre Lehrerinnen und Lehrer komplett überfordert, überfragt und ausgelaugt sind. Dass die „von oben“ vorgegebenen Konzepte leider nur schwer bis gar nicht realisierbar sind. Was das mit ihnen macht? Das werden wir in ein paar Jahren sicherlich sehen. (Sandra R., 23.9.2021)

Sandra R. (Pseudonym, Name der Redaktion bekannt) ist seit drei Jahren an einer MS in Wien, 20 Jahre arbeitet sie bereits als Lehrerin.

Weitere Beiträge im Blog