Bild nicht mehr verfügbar.

Der EGMR hat der Witwe Litwinenkos Schadenersatz in Höhe von 100.000 Euro zugesprochen.

Foto: AP / Wigglesworth

Bild nicht mehr verfügbar.

Der übergelaufene russische Geheimagent wurde 2006 mit radioaktivem Polonium vergiftet.

Foto: Reuters

Auf dem Totenbett hatte Alexander Litwinenko den russischen Präsidenten Wladimir Putin selbst beschuldigt, seine Ermordung in Auftrag gegeben zu haben. "Ich habe keinen Zweifel, dass die russischen Geheimdienste dafür verantwortlich sind", und die "Anordnung dazu kann nur einer Person geben", sagte der von der Strahlenkrankheit schon sichtlich gezeichnete Litwinenko damals dem Scotland-Yard-Agenten, der ihn befragte.

15 Jahre später stimmt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dieser Einschätzung prinzipiell zu: Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Andrej Lugowoi und Dmitri Kowtun Litwinenko in einer Londoner Bar mit Polonium vergiftet haben, das sie ihm in den Tee mischten.

Kein Zugang zu internen Ermittlungen

Mehr noch: Die beiden Männer hätten im Auftrag der russischen Behörden gehandelt, urteilte der EGMR. Als Indiz für die Beteiligung Moskaus wertete das Gericht auch die Tatsache, dass sich Russland weigere, Dokumente eigener interner Ermittlungen zu teilen, die das Gegenteil beweisen sollen.

Der EGMR hat nun der Witwe Litwinenkos Schadenersatz in Höhe von 100.000 Euro zugesprochen. Zudem müsse Russland die Kosten des Verfahrens – weitere 22.500 Euro – tragen, so das Urteil. Der Richterspruch fiel nicht einstimmig. Der russische Richter des EGMR, Dmitri Dedow, veröffentlichte eine abweichende Meinung: "Ich habe viele Unzulänglichkeiten in der Analyse der britischen Ermittlungsbehörden und des Gerichts entdeckt, die begründeten Zweifel an der Beteiligung der Verdächtigen an der Vergiftung wecken, und daran, dass sie im Auftrag des Staates handelten", schrieb Dedow.

Keinen Rubel aus Moskau

Moskau hatte eine Schuld an dem Polonium-Mord stets bestritten. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow bestätigte diese Position und betonte, dass Russland der Witwe keinen Rubel zahlen werde. Die Vorwürfe aus Straßburg nannte Peskow "mindestens unbegründet". Der Kreml werde die Entscheidung daher nicht akzeptieren, sagte er.

Die russische Führung hat im vergangenen Jahr speziell für solche Fälle einen Passus in die neue Verfassung eingebaut, der es ihr erlaubt, ausländische Urteile zu ignorieren. Nationales Recht geht seither über internationales Recht.

Bei der Verweigerung der Kompensation an die Witwe geht es dabei nicht um den finanziellen Aspekt, sondern darum, das Gesicht zu wahren. Allerdings vergiftet der Fall Litwinenko damit auch weiter die Beziehungen Russlands speziell zu Großbritannien, aber auch zur Europäischen Union.

Karriere nach Attentat

Litwinenko hatte in den 80er- und 90er-Jahren für den KGB und später dessen Nachfolgeorganisation FSB gearbeitet, sich 1998 aber mit der russischen Führung überworfen, nachdem er öffentlich erklärt hatte, dass er von ihr mit der Ermordung des einflussreichen russischen Geschäftsmanns Boris Beresowski beauftragt worden sei.

Im Jahr 2000 floh er aus Russland und bekam in London Asyl. Mit finanzieller Unterstützung Beresowskis, der ebenfalls aus Russland fliehen musste, wurde er zu einem prominenten Kritiker Putins. Dem FSB warf er zudem vor, die Sprengstoffanschläge auf Moskauer Wohnhäuser 1999, die zum Auslöser des Zweiten Tschetschenienkriegs wurden, selbst organisiert zu haben. Später arbeitete Litwinenko auch für den britischen Geheimdienst MI6.

Zumindest einer der mutmaßlichen Attentäter hat nach der Affäre in Russland Karriere gemacht. Lugowoi sitzt seit 2011 für die populistische, aber Kreml-treue Partei LDPR in der Duma und ist nebenbei Geschäftsmann. Das jetzige Urteil des EGMR nannte er "politisch motiviert". Der ebenfalls beschuldigte Kowtun gilt als Geschäftspartner Lugowois, ist allerdings in der Öffentlichkeit kaum präsent. (André Ballin aus Moskau, 21.9.2021)