Neuerdings Leihmutter eines kleinen Lämmchens, das verteidigt werden will: Noomi Rapace in dem isländischen Folk-Horrorfilm "Lamb".

Foto: Lilja Jonsdottir

Definitionen sind im Fall von Julia Ducournaus Titane keine kleine Herausforderung. Serienmörder-Thriller mit Tank Girl? Transgender-Parcours mit Body-Horror-Elementen? Surreale Variante eines Vater-Kind-Maschinen-Dramas? Der dieses Jahr mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichnete Film dreht so lustvoll Genreversatzstücke durch den Fleischwolf, dass am Ende keine Kategorie richtig passt.

Ducournau steht für eine Tendenz im Filmschaffen ihres Landes, die bereits als "Kino der Sensationen" bezeichnet wurde: Normüberschreitungen prasseln darin mit stark haptisch ausgerichteten Bildern auf die Augen des Publikums ein. Als Genreregisseurin betrachtet sie sich nur bedingt: "Ich mache keinen Horror im engen Sinne, sondern eher verdauten Horror, aus der Perspektive meiner Figuren", sagte sie unlängst in einem Interview.

Altitude Films

Der Satz illustriert gut, wie stark Ducournau vom Körperlichen aus denkt. Gängige Identitätskonzepte lässt sie beherzt hinter sich. Alexia, die von der nichtbinären Schauspielerin Agathe Rousselle verkörperte Heldin aus Titane, durchläuft eine Verwandlung, die souverän alle Erwartungen durchbricht. Irgendwann fließt Motoröl zwischen ihren Beinen herunter, in ihrem Bauch wächst ein Metallwesen heran. Doch das Monströse ist weniger eine Gefahr, vielmehr die Erweiterung einer unvollkommenen Welt.

Mit Titane als Eröffnungsfilm ist dem am Donnerstag startenden Slash-Festival, das sich seit jeher dem fantastischen Kino verschreibt, nicht nur ein kleiner Coup gelungen. Der Film zeigt auch paradigmatisch auf, wie sich das Genrekino neuerdings selbstbewusst Themenfeldern öffnet, in denen feministische und Transgenderdebatten der Gegenwart Widerhall finden.

Bertrand Mandico, ein weiterer französischer Ikonoklast, hat beispielsweise mit After Blue einen "Acid-Western" gedreht, auf einem Planeten, der nur für Frauen ideale Lebensbedingungen aufweist. Bewaffnet mit Gucci-Gewehren geht ein Mutter-Tochter-Gespann auf die Jagd nach einer berühmten Killerin.

Lust auf Inkohärentes

Mandico ist Vertreter eines "inkohärenten Kinos", das er gemeinsam mit Katrin Ólafsdóttir mit einem Manifest ausgerufen hat und das bewusst – aber nicht unironisch – stilistische Ordnungen durchbricht: Für die Filme soll etwa bevorzugt abgelaufenes Filmmaterial benutzt werden.

Das passt nur zu gut zu dem von Festivalleiter Markus Keuschnigg und seinem Team mit viel Passion für die exzentrischen Ränder des Kinos kuratierten Festivals – die Retrospektive gilt diesmal dem mythenschweren Feld des Folk-Horrors. Dazu könnte man auch Lamb, einen weiteren Festivalfavoriten, zählen. Valdimar Jóhannsson geht seine Ausweitung traditioneller menschlicher Gemeinschaften allerdings vergleichsweise zurückhaltend, ja leise an.

A24

Ein isländisches Bauernpaar erwartet Nachwuchs bei seinen Schafen. Die erste Irritation tritt ein, als das Lämmchen, von dem man als Zuschauer zuerst nur den Kopf sieht, nicht im Stall bleibt, sondern mit in die Stube darf. Auch das notorische Blöken des Muttertiers hilft nichts, die Leiheltern rücken das Junge nicht mehr heraus – und schreien zurück.

Von da an verschiebt Jóhannsson die Grenzen zwischen den Spezies in Nuancen weiter. Der Reiz des Films liegt darin, dass er seine Fabel über eine Chimäre ganz realistisch erzählt. Eine wiederkehrende Frage dieser Ausgabe von Slash lautet mithin, inwiefern die Vermischung mit dem Anderen die menschliche Gesellschaft nicht stärkt: wie im satirischen Jakob’s Wife von Travis Stevens, in dem die Ehefrau eines Pastors nach einem Vampirbiss ihre Weiblichkeit neu entdeckt. Besser tot lebendig als lebendig tot. (Dominik Kamalzadeh, 22.9.2021)