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SPD-Kandidatin Franziska Giffey will Bürgermeisterin in Berlin werden.

Foto: Reuters / Annegret Hilse

"Arm, aber sexy" nannte der ehemalige Berliner SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit seine Stadt vor 18 Jahren. Der Spruch passte damals zumindest dahingehend, dass Wohnraum noch billiger war als in anderen Großstädten Europas. Doch das ist längst vorbei. Sexy ist die weltoffene Stadt für Künstlerinnen, Partytouristinnen oder internationale Start-ups immer noch. Die wachsende Wohnungsnot, die auch die bisherige Koalition von SPD, Grünen und Linken nicht in den Griff bekam, ist alles andere als sexy.

Die Hälfte für Enteignungen

Das Thema Wohnen spielt bei den kommenden Wahlen gerade in der Bundeshauptstadt die größte Rolle. In den letzten zehn Jahren haben sich die Mieten in Berlin im Schnitt verdoppelt. Die Nachfrage stieg, die Mietpreise noch viel mehr. In Berlin wird am 26. September auch das Abgeordnetenhaus der Stadt gewählt und damit über das künftige Stadtoberhaupt entschieden. Zudem wird die Bezirksverordnetenversammlung gewählt und über den Volksentscheid "Deutsche Wohnen & Co enteignen" abgestimmt. 359.000 Unterschriften haben die Initiatoren bereits gesammelt, und laut Umfragen will rund die Hälfte der Stimmberechtigten für die Enteignung großer Wohnkonzerne wie Deutsche Wohnen und Vonovia stimmen.

Vergesellschaftung

Außerhalb Berlins überrascht die hohe Zustimmung für eine augenscheinlich radikale Maßnahme. Die Enteignungen wären eigentlich Vergesellschaftungen (oft von Wohnungen, die einst privatisiert wurden) und beträfen Unternehmer mit mehr als 3.000 Wohnungen. Diese sollen entschädigt werden und die Wohnungen wieder zu moderaten Mieten am Markt landen – so zumindest der Plan. In anderen deutschen Bundesländern wie etwa in Sachsen, aber auch in Bayern sind übrigens Enteignungen nichts Ungewöhnliches, vor allem für den Straßenbau.

Die Berliner Grüne Bettina Jarasch ist für die Enteignung großer Wohnkonzerne.
Foto: AFP / Odd Andersen

Nur zwei der antretenden Berliner Parteien sind für ein Ja zum Volksentscheid. Allen voran der Berliner Kultursenator und Spitzenkandidat der Linken, Klaus Lederer.

Der amtierende SPD-Bürgermeister Michael Müller tritt nicht mehr an. Seine wegen ihrer Plagiatsaffäre als Ministerin zurückgetretene, aber bei der Bevölkerung beliebte Parteikollegin Franziska Giffey dürfte allen Prognosen zufolge die erste Bürgermeisterin Berlins werden. Gefährlich könnte ihr nur mehr die Grüne Bettina Jarasch werden. In jüngsten Umfragen liegt sie mit 20 Prozent nur einen Prozentpunkt hinter Giffey.

Der Spitzenkandidat der Berliner Linken: Kultursenator Klaus Lederer.
Foto: Imago

Die SPD-Kandidatin Giffey will allerdings beim Volksentscheid nicht mit Ja stimmen. Sie argumentiert damit, dass sich das verschuldete Berlin die Entschädigungssumme von rund 30 Milliarden Euro nicht leisten könne und damit auch noch keine zusätzlichen Wohnungen geschaffen wären. Befürworter des Volksentscheids berufen sich aber auf das Grundgesetz, das erlaube, Immobilienkonzerne unter Marktwert zu entschädigen.

Darüber kann Giffey sicher auch mit ihrem linken Parteiflügel trefflich streiten. Die Grüne Jarasch wiederum stimmt – gegen die Linie der eigenen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock – sehr wohl mit Ja.

In die neue Stadtregierung will aber auch der CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner, der gegen Enteignungen und für mehr Wohnungsbau ist. Für rund 20.000 neue Wohnungen sind auch SPD und Grüne.

CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner – hier beim Wirtschaftstag 2021 des Wirtschaftsrats.
Foto: Imago

Wegner kann der linken Dreierkoalition auch den gescheiterten Mietendeckel vorwerfen. Die Stadt hat ihn als Instrument gegen die stetig steigenden Mieten im Jänner 2020 beschlossen, das Bundesverfassungsgericht im April 2021 gekippt. Nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern weil die Stadt nicht befugt war, ihn zu installieren. Die Situation am Wohnungsmarkt verschärfte sich dadurch – noch dazu mitten in der Pandemie. Rund 200 Euro monatlich hatten sich Mieter gespart, als der Mietendeckel in Kraft war. Nun müssen sie diese nicht nur zurückzahlen, bei vielen stieg auch gleich die Miete exorbitant an.

Nachzahlungen nach Mietendeckel-Aus

Etwa beim 40-jährigen Benni. Er lebt in Prenzlauer Berg, wo man nach der Wende desolate Ost-Wohnungen zuerst günstig kaufen und mit öffentlicher Förderung renovieren konnte, nun aber seit Jahren die Mieten steigen. Im Fall von Bennis Wohnung alle drei Jahre um satte 15 Prozent. Benni ließ sich nach dem Fall des Deckels auf einen Rechtsstreit mit seinem Vermieter ein, als dieser die Miete wieder erhöhen wollte. Nun muss er wahrscheinlich auch für Gerichtskosten aufkommen. "Ich stimme für den Volksentscheid", sagt der Selbstständige im Gespräch mit dem STANDARD. "Fun-Fact: Ich bin nicht nur Mieter, sondern auch Eigentümer einer Wohnung, die ich vermiete." Allerdings nicht zu Wucherpreisen – und als Privateigentümer nur einer Wohnung wäre er von Enteignungen nicht betroffen.

Nicht vom Mietendeckel betroffen waren Bernd und Bärbel, ein Rentnerpaar, das zu DDR-Zeiten in einem Häuschen auf dem Land und später in einer Altbauwohnung in Ostberlin wohnte – mit doppelt so viel Wohnfläche zu einem Zehntel der heutigen Miete. Schon seit 20 Jahren sind sie nun in einem Wohnhaus eines kommunalen Unternehmens der Stadt in Kreuzberg – und damit kein Fall für den Mietendeckel.

Ein Rentnerpaar, das selbst in der DDR aufwuchs und seine Kinder großzog, war schon nach der Wende schockiert über die westlichen Mietpreise. Heute leben sie in Kreuzberg in einem städtischen Wohnbau.
Foto: Lutz Jäkel

Es war damals "ein Schock", als sie nach der Wende ihr Haus verkauften, das heute ein Vielfaches wert wäre. Ihr neues Viertel rund um den Mehringplatz, der seit zehn Jahren eine chaotische Baustelle ist, scheint vergessen worden zu sein. Dass das so ist, weil es mehrheitlich von Migranten bewohnt ist, will man auf Nachfrage im Quartiersmanagement nicht bestätigen. Jedenfalls wartet auch die Schule am Platz seit Jahren auf ihre Renovierung. "Es ist aber unser Kiez geworden, und wir sind hier zu Hause", sagt Bernd versöhnlich, als er aus dem Fenster schaut. In Blickweite haben Obdachlose am Landwehrkanal eine Unterkunft gebaut.

Zahl der Obdachlosen hoch

Sie leben am äußeren Rand des Wohnungsmarktes. 1.976 obdachlose Menschen hat die Stadt mit ihren rund 3,6 Millionen Einwohnern Anfang 2020 gezählt.

Berliner Obdachlose haben hier am Landwehrkanal in Kreuzberg über Monate im Freien gewohnt. Jetzt wird es zu kalt.
Foto: Colette Schmidt

Es war die erste Zählung von Obdachlosen in Deutschland. Man zählte mit Sozialarbeitern nachts, nur im öffentlichen Raum, nicht in Abbruchhäusern oder Notschlafstellen. Dazu kommen noch 30.000 Menschen, die wohnungslos, aber in Einrichtungen untergebracht sind. Couchsurfer, die temporär privat unterkommen, sind nicht erfasst. Wie der Anstieg nach Corona und dem Kippen des Mietendeckels aussieht, weiß man noch nicht, heißt es auf STANDARD-Anfrage bei der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Die nächste Zählung ist für 2022 geplant. Mit einem "Masterplan" will die Stadt bis 2030 Obdachlosigkeit abgeschafft haben. Die 330 Millionen, die die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit heute kostet, sollen in "bedingungslose" Wohnungen für die Ärmsten investiert werden. Umsetzen soll das die neue Stadtregierung. (Colette M. Schmidt aus Berlin, 22.9.2021)