Dieses Waldstück haben in den letzten Jahrhunderten vermutlich nur sehr wenige Menschen gesehen. Ziemlich sicher sind wir die ersten Journalisten, die jemals in diese kleine Urwaldfläche vordringen und darüber berichten werden – auch darüber, dass wir Großstadtbewohner uns eine Waldwildnis womöglich ein wenig "wilder" vorgestellt haben: Von einem undurchdringlichen Urwalddickicht ist jedenfalls auf dieser Waldfläche im abgelegenen Kohlersgraben im Nationalpark Kalkalpen keine Spur. Das liegt auch an einigen umgestürzten Buchen, die ordentliche Schneisen in das Areal geschlagen haben, das vor allem deshalb unberührt blieb, weil es zu steil ansteigt, um forstwirtschaftlich genutzt werden zu können.

Fifty Shades of Green eines Buchenurwalds und und die Besuchergruppe an einem mächtigen Stück Totholz, das für viel neues Leben sorgt.
Foto: Heinz Peterherr

Wir rasten bei einem der gefallenen Buchenriesen, dessen Stamm mit Moos und Pilzen überwachsen ist. Ringsum liegt relativ viel Totholz am Waldboden, der von einer knöcheltiefen Laubschicht überzogen ist. Totholz ist ein guter Indikator dafür, dass es sich um einen Urwald handelt, erklärt Franz Sieghartsleitner, einer der Experten des Nationalparks, der auch zahlreiche Bücher über sein "Revier" verfasst hat: "Im Schnitt geht man davon aus, dass auf einen Hektar Urwald rund 60 Festmeter Totholz kommen."

Urwälder als Kohlenstoffsenken

Ein anderes Charakteristikum naturbelassener Wälder sei, dass es hier Bäume in allen Größen gibt, sagt der Experte mit Blick auf eine einzelne und ziemlich mächtige Tanne. Was man an ihr nicht sieht, sei ähnlich eindrucksvoll, sagt Sieghartsleitner: "So große Tannen haben – anders als die flachwurzelnden Fichten – bis zu zwölf Meter tiefe Wurzeln, die bis zu 35 Kubikmeter Volumen haben können." Kein Wunder also, dass Urwälder zu den besten Kohlenstoffsenken zählen, die es überhaupt gibt, und auch in Österreich einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten – weshalb sie auch von eben diesem Ministerium unterstützt werden.

Nationalpark Kalkalpen

Aber wie lange steht ein Buchenurwaldstück wie dieses überhaupt schon naturbelassen da? Sicher lässt sich nur sagen, dass es nach dem Ende der letzten Eiszeit vor knapp 12.000 Jahren anders aussah. Denn damals waren die Buchen in Mitteleuropa verschwunden. Einige wenige Restbestände überlebten aber in den südlichen Regionen des Kontinents und gelangten vor rund 6.000 Jahren wieder zurück in unsere Gegend, wie Sieghartsleitner weiß. Was man genau ermitteln kann, ist das Alter der ältesten Buchen im Nationalpark, die man weniger an der Größe als an ihrer besonders verwitterten Rinde erkennt: Bisheriger Rekordhalter ist ein 549 Jahre alter Buchenmethusalem, an dem sich auch ein jahrhundertelanger Kampf gegen klimatische Extreme ablesen lässt.

Das ist die (bisher) älteste Buche im Nationalpark Kalkalpen.
Foto: Fuxjäger

Seit 2017 Unesco-Weltnaturerbe

"Solche Urwälder sind aber auch ganz besondere Hotspots der Biodiversität", sagt der Zoologe Erich Weigand. Das gelte für den rund 21.000 Hektar großen Nationalpark Kalkalpen insgesamt, der das größte zusammenhängende Waldschutzgebiet Österreichs darstellt. Besonders treffe das aber auf die alten Buchenwälder zu, die etwa ein Viertel der Nationalparkfläche bedecken und 2017 ins Unesco-Weltnaturerbe aufgenommen wurden.

"Eine Vielzahl der Arten kommt ausschließlich in Wäldern wie dem hier vor", sagt Weigand. Solche "Urwaldzeigerarten" sind eindeutige Hinweise auf eine seit Jahrhunderten vom Menschen unberührte Waldfläche. Dazu gehören gut 40 besonders rare Urwaldkäferarten, die auf ganz bestimmte ökologische Nischen in dieser Waldwildnis angewiesen sind, erklärt Weigand und bringt einen eindrucksvollen Vergleich: "In ganz Deutschland gibt es weniger dieser Urwaldkäferarten als in diesem 15 Hektar großen Waldstück, in dem wir uns gerade befinden."

Einer der schönsten heimischen Käfer: der Alpenbock, der auf viel Totholz angewiesen ist.
Foto: Herfried Marek, NPG

Der schillerndste unter den Käfern, die eine solche Waldwildnis und Totholz brauchen, ist der Alpenbock: ein mittelgroßer Bockkäfer mit langen Fühlern und einer himmelblau-schwarzen Musterung, die ihn unverwechselbar macht. "Der Alpenbock lebt drei bis vier Jahre lang als Larve im absterbenden Holz, ehe er sich verpuppt", sagt Weigand. "Als geschlüpfter Käfer lebt er dann vermutlich nicht viel mehr als zehn Tage lang."

Die verschiedenen Insektenarten machen 80 Prozent der Biodiversität im Nationalpark aus. Sie tragen aber auch als exklusives Futter selbst zur besonderen Artenvielfalt bei. Eine dieser Arten, die sich bevorzugt von den Larven dieser ausgewählten Käferarten ernährt, ist der Weißrückenspecht, die seltenste Spechtspezies Österreichs. Im Nationalpark Kalkalpen leben aktuell 130 bis 150 Brutpaare dieser nicht nur sehr raren, sondern auch extrem scheuen Vogelart.

Ähnelt dem Buntspecht, ist aber ungleich seltener und scheuer: der Weißrückenspecht, der nur in Urwäldern nistet.
Foto: Thomas Hochebner, NPG

110 km aufgelassene Forststraßen

Eine Spechtsichtung bleibt uns leider verwehrt – und so verlassen wir den Urwald wieder so, wie wir gekommen sind: Durch eine kleine, eher unwegsame Schlucht und ein ausgetrocknetes Bachbett geht es zurück in Richtung Zivilisation – zunächst über einen seit Jahren aufgelassenen Forstweg, den sich die Natur schon wieder langsam zurückerobert. "Insgesamt gibt es 110 Kilometer solcher ehemaliger Forststraßen, die im Nationalpark in den letzten gut zwanzig Jahren aufgegeben wurden", sagt Sieghartsleitner. Schließlich landen wir wieder auf jener Schotterpiste, die auf der Trasse der ehemaligen Waldbahn errichtet wurde und heute als beliebter Radweg durch den Nationalpark führt.

Mit dieser Bahn hat man früher das in den zugänglicheren Wäldern geschlägerte Holz aus dem Reichraminger Hintergebirge transportiert, um es vor allem in der eisenverarbeitenden Industrie im Ennstal zu verheizen. Nach deren Ende gab es in den 1980er-Jahren konkrete Pläne, den Reichramingbach mit zwei riesigen Staumauern zur Energiegewinnung zu nützen. Doch das wurde damals von Aktivisten wie Franz Sieghartsleitner verhindert. Und so wie auch in den Hohen Tauern oder in den Donau-Auen wurde die erfolgreiche Verhinderung von Kraftwerksprojekten auch in den Kalkalpen zur Geburtsstunde eines Nationalparks, der 1997 eröffnet wurde.

Außergewöhnlicher Artenreichtum

Der ist dank seines Waldreichtums und seiner Mittelgebirgslage besonders artenreich: "Man schätzt, dass es im Nationalpark Kalkalpen rund 20.000 Tierarten gibt", sagt Erich Weigand, "4500 davon sind bereits nachgewiesen." Zum Vergleich: Für ganz Österreich nimmt man eine Zahl von rund 50.000 Tierarten an. Neben dem Weißrückenspecht oder den seltenen Käferarten gibt es im Nationalpark einige absolute Raritäten, so Weigand: "Eine davon ist die genetisch ursprünglichste Form der Bachforelle, die sich im Oberlauf des Reichramingbachs erhalten hat."

Das inoffizielle Wappentier des Nationalparks Kalkalpen, nämlich der Luchs, wurde hingegen erst vor rund zehn Jahren wiederangesiedelt, zunächst mit drei Tieren aus der Schweiz. Es gab auch Nachwuchs, doch 2015 schoss ein Jägerpaar aus dem Industriellenmilieu zwei Luchse illegal, wie Sieghartsleitner weiß. Immerhin kam es in dem Prozess zu einer straf- und zivilrechtlichen Verurteilung, und die Täter mussten pro Luchs rund 12.000 Euro Schadenersatz zahlen.

Einer der besenderten Luchse im Nationalpark Kalkalpen.
Foto: Sonvilla-Graf

Dank weiterer Ansiedlungen gibt es aktuell sechs Luchse, die sich der Nationalpark Kalkalpen mit dem benachbarten Nationalpark Gesäuse in der Steiermark "teilt". Die Raubkatzen halten sich nämlich nicht an die Nationalparkgrenzen, was vor allem in der Jägerschaft in den umliegenden Gebieten für Ärger sorgt: So mancher Jagdausübungsberechtigter sieht "sein Wild" durch den Luchs gefährdet.

Luchs-Trail durch die Nationalparks

Auf die Spuren der großen Kleinkatzen mit den Pinselohren kann man sich auf dem Luchs-Trail begeben. Das ist eine mehrtägige Wanderroute, die in Reichraming beginnt und vom Nationalpark Kalkalpen zum Nationalpark Gesäuse und von da bis zum Wildnisgebiet Dürrenstein und dem Lunzer See in Niederösterreich führt (siehe Karte unten). Das dritte Drittel der Strecke führt dabei durch einen "Naturraumkorridor".

Der Luchs-Trail verbindet für Wanderer die beiden Nationalparks mit dem Wildnisgebiet Dürrenstein. Für die Tiere und Pflanzen gibt es "Trittsteine" (rot) in Form von renaturierten Waldgebieten, die den genetischen Austausch erleichtern sollen.

Die Idee dahinter erklärt Andreas Hollinger vom Nationalpark Gesäuse: "Die drei Schutzgebiete reichen für manche Tier- und Pflanzenarten und vor allem für deren genetischen Austausch nicht aus. Das kann nur dadurch gesichert werden, dass die einzelnen Arten zwischen den streng geschützten Gebieten wandern können – ähnlich wie die Menschen auf dem Luchs-Trail."

Die Vertreter der beiden Nationalparks und des Wildnisgebiets initiierten deshalb das Projekt Netzwerk Naturwald. Das Team um Leiter Christoph Nitsch identifiziert dabei zum einen geeignete "Trittsteine" – im Wesentlichen möglichst naturbelassene Waldgebiete – und tut zum anderen alles dafür, um diese Flächen unter einen besonderen Schutz zu stellen. Das bedeutet konkret, sie möglichst nicht mehr forstwirtschaftlich und zur Jagd zu nützen – was naturgemäß für Interessenkonflikte sorgt. Dass sich die ausräumen lassen, zeigen einige Trittsteine, die bereits als Brückenköpfe der Biodiversität etabliert werden konnten.

Diese Plaketten hängen weiterhin, die Hinweise auf den Luchs-Trail wurden kürzlich zerstört.
Foto: Klaus Taschwer

Ein Projekt mit vielfachem Nutzen

Einer davon ist rund 40 Hektar großes Waldgebiet im Rutschergraben, der zwischen den beiden Nationalparks liegt. Auch hier sind die Waldhänge zum Teil extrem steil. "Das macht es schwierig und gefährlich, hier Bäume zu fällen und abzutransportieren", sagt Andreas Holzinger. Der Direktor der Steiermärkischen Landesforste führt kenntnisreich durch einen kleinen Abschnitt des abgelegenen Waldgebiets und betont den beiderseitigen Nutzen des Projekts: Den Landesforsten wird der Verzicht auf die Nutzung jener Waldflächen abgegolten, die ohnehin kaum Gewinn bringen würden. Und davon wieder profitieren Natur-, Arten- und Klimaschutz.

Ähnliches gilt für einen weiteren besuchten Trittstein: den Steinwald am Ausgang des Salzatals. Dieses Sprungbrett für seltene Arten durchquert man auch, wenn man wandernd dem Luchs-Trail folgt. Dieser Pfad und sein Namensgeber sind aber anscheinend nicht bei allen Anwohnern beliebt: Sämtliche Tafeln, die auf den Luchs-Trail hinweisen, wurden nämlich kürzlich von Unbekannten weggerissen. (Klaus Taschwer, 22.9.2021)