"Träumt der Krieg von sich selbst?" Werner Herzog, hier 2017 während eines Besuchs in Wien, meditiert über das Leben und den Tod.

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Der Teufel steckt im Detail, und Werner Herzog ist ein Spitzbube. Noch bevor seine neue literarische Dokumentararbeit Das Dämmern der Welt anhebt, verrät er vorne versteckt im Kleingedruckten sein künstlerisches Programm: "Viele Details stimmen, viele stimmen nicht. Dem Autor kam es auf etwas anderes an, auf etwas Wesentliches …"

Der 1942 in München geborene Regisseur hat es sich zeitlebens zur Aufgabe gemacht, dem Wahnsinn der Welt, der großen Leere und Sinnlosigkeit, die sich hinter jedem menschlichen Tun und Wollen verbergen, mit der Kamera beizukommen. Und wenn man sich dabei Psychopathen wie Klaus Kinski als Hauptdarsteller einhandelt, wird dabei nicht nur für extreme und aus dem Ruder laufende Drehbedingungen gesorgt. Auch die grundsätzlich feindliche Natur in ihrer Zuspitzung als Dschungel in Fitzcarraldo oder Aguirre, der Zorn Gottes sorgt für jede Menge dramatische metaphysische Betrachtungen, Katastrophen und Beklemmungen.

"Ekstatische Wahrheit"

Nach den autobiografischen Tagebüchern Vom Gehen im Eis (1978) und Eroberung des Nutzlosen (2004) behält Herzog den sich gut zeitlassenden Veröffentlichungsrhythmus bei und tarnt seine ewige Suche nach "ekstatischer Wahrheit" nun in Das Dämmern der Welt wiederum als, man kann es nicht anders sagen, magischen Dokumentarismus. Handelte Vom Gehen in Eis von einer Wanderung Herzogs von München nach Paris und Eroberung des Nutzlosen von den traumatischen Dreharbeiten zu Fitzcarraldo, so widmet sich Herzog, der mittlerweile lieber einfacher finanzierbare Dokumentar- als Spielfilme dreht und deshalb zuletzt in der Star Wars-Serie The Mandalorian als der sinistre Charakter The Client auftrat, aktuell wiederum "mythischen Geschichten, Fieberträumen im Dschungel und einer Art Science-Fiction".

Auch für den Band Das Dämmern der Welt verwendet Herzog diese seine wesentlichen Zutaten. Die Geschichte beruht auf wahren, allerdings fremderlebten Ereignissen. Dieses Mal gibt Herzog nicht nur den Geisterbeschwörer, sondern auch den Geistschreiber.

Späte Rückkehr in die Heimat

Es geht um den japanischen Soldaten Onoda Hiroo. Der wurde mit einer kleinen Einheit kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in Marsch gesetzt, um auf einer philippinischen Insel vor Manila Sabotage gegen den Feind zu betreiben. Allerdings bekommen die Japaner dort blöderweise, undercover im lebensfeindlichen Dschungel, das Ende des Krieges nicht mit. Auch diverse Suchaktionen oder schon 1945 zum Kriegsende abgeworfene Flugzettel können Onoda, der am Ende ganz allein gegen nun nicht mehr US-amerikanische, sondern philippinische Soldaten kämpft, nicht überzeugen. Alles nur vom Feind betriebene Propaganda und vielfach auch als Zivilisten getarnte Agenten!

Erst 1974 endete sein 30-jähriger Guerillakrieg im Dschungel der Insel Lubang. Ein extra von Japan geholter, ihm ehemals vorgesetzter Offizier kann Onoda vom Ende des Kriegs überzeugen und zur Aufgabe überreden. Alle seine Kameraden waren über die Jahre getötet worden. Insgesamt waren während dreier Jahrzehnte 30 Menschen ums Leben gekommen, mehr als hundert Personen verletzt worden. Der längst nur noch in Uniformlumpen vegetierende Onoda Hiroo wurde vom Präsidenten der Philippinen begnadigt und durfte zurück in seine Heimat kehren.

Welt ohne tieferen Sinn

Als 1997 Werner Herzog nach Tokio kommt, um dort die Welturaufführung der japanischen Seppuku-Oper Chushingura zu inszenieren, lehnt der deutsche Regisseur zum Entsetzen seiner Gastgeber die Einladung zu einer Privataudienz beim Kaiser ab. Er möchte lieber den weltberühmten Soldaten kennenlernen, der für seine unverbrüchliche Treue zum Kaiser und zum Vaterland als Nationalheiliger verehrt wird.

Aus diesem Treffen ist nun, nur 24 Jahre danach, ein als Tagebuch getarnter Band entstanden. Darin erweist sich Herzog einmal mehr als begnadeter Beobachter. Ein namenloser Chronist unternimmt eine eindringliche Annäherung an Onodas Seelenzustände und wird imaginärer Zeuge einer extremen Verlangsamung des Lebens bis hin zu einer Existenz als im Dschungel mit Laub und Zweigen getarnter Geist: "Eine formlose Zeit des Schlafwandelns, obwohl alles wirklich ist, unmittelbar, anfassbar, schaurig und unabweisbar in seinem Präsens – der Dschungel, der Morast, die Blutegel, die Moskitos, das Schreien der Vögel, der Durst, das Jucken der Haut."

Man kann sich dieses Buch als Kamerafahrt durch eine Welt ohne tieferen Sinn vorstellen, als einen knappen, präzisen wie pathetisch hochaufgeladenen Bericht über die "Vereinigung eines imaginären Nichts und eines Traumes". Herzog meditiert über Leben und Tod: "... Onodas Krieg, dergestalt von nichts gezeugt, ist ein überwältigendes Ereignis, eines, das der Ewigkeit abgetrotzt ist." Der Krieg ist aus, ein neuer fängt an. (Christian Schachinger, 23.9.2021)