Foto: Sandra Then

Eine weitreichende Mehrdeutigkeit des Abends ist vermutlich unbeabsichtigt: "Ist das etwas?", fragt der Darsteller, der vor dem stehenden Auto im Stand davonzulaufen vorgibt. Doch während diese Frage im Hochdeutschen eher auf die ontologische Existenz an und für sich abzielen würde, meint sie auf Schwyzerdütsch auch etwas anderes: "Isch säb öppis?" hieße: Ist das gelungen, leiwand, knorke?

In einem Meer von Zwischentönen lässt sich das Substrat in diesem "Musik, Theater" (die Schreibweise mit Komma bei den Wiener Festwochen ergibt durchaus Sinn) des Schweizer Regisseurs Thom Luz, Lieder ohne Worte, kaum dingfest machen. Dabei finden sich darin mit einer Urtextausgabe von Felix Mendelssohn Bartholdys gleichnamigen 48 Klavierstücken und einem Unfallwagen auf der Bühne der Halle G des Museumsquartiers durchaus handfeste Ingredienzen für pausenlose 90 Minuten.

"Gemeinsam mit drei Musiker*innen versuchen zwei Überlebende den Unfall zu rekonstruieren." So fasst die Festwochen-Homepage das Geschehen zusammen. Schon dieser Satz ist eine zu konkrete Festschreibung. Zwar beginnt Instrumental-Allrounder Mathias Weibel (Musikalische Leitung) seine Arbeit am Synthi und Piano, wird dann aber ebenso Teil des szenischen Aktionsgeflechts wie die Tänzerin und Theremin-Spielerin Fhunyue Gao, die Cellistin und Performerin Mara Miribung, der Pianist und Schauspieler Daniele Pintaudi sowie Samuel Streiff, als Schauspieler Protagonist der TV-Serie Der Bestatter, aber auch ausgebildeter Countertenor.

Autounfall

Es ist wahr, dass sie alle den Moment eines verunfallten Automobils und dessen Umfeld umkreisen. Doch wird dabei einerseits an wesentlich Grundsätzlicherem gerührt und andererseits drumherum ein Mikrokosmos fluktuierender Bedeutungen geschaffen. Mendelssohns Klavierstücksammlung dient als Ausgangspunkt, als zugegebenermaßen etwas konstruiertes Bindeglied zur faktischen Handlung und als Materialsteinbruch. Musik dringt, zunächst kaum hörbar, aus dem Autoradio.

Doch während man zunächst fürchten muss, der Wechsel Synthi – Klavier – Synthi würde ermüdend weitergehen, entpuppt sich gerade die musikalische Seite als äußerst bunt und beziehungsreich: Verfremdungen mit Elektronik und E-Streichinstrumenten, eine Vielzahl von Anspielungen und Zitaten von Bach bis Mahler oder Lieder mit Worten wie Mendelssohns Männerchor-Vertonung von Heinrich Heines Heimkehr: "Die Sonne hebt sich noch einmal, leuchtend vom Boden empor, und zeigt mir jene Stelle, wo ich das Liebste verlor."

Steinbruch Nummer zwei bildet ein Textkonglomerat, das vom Wetterbericht und der Fremdenverkehrswerbung bis zum philosophischen Traktat mit einer Fragestellung reicht, an der sich auch das Stück abarbeitet: Muss man Zeit linear verstehen? Oder könnten Archäologen auch etwas für künftige Generationen eingraben? Witzig immer wieder eine selbstreflexive Ebene, wenn die Darsteller proben, entwerfen, verwerfen. Das Ansinnen von Thom Luz, "den Zuschauer*innen Rätsel zu schenken", scheint jedenfalls gelungen. Also ist das etwas. (Daniel Ender, 23.9.2021)