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Vor dem polnischen Verfassungsgericht in Warschau wurde am Mittwoch für die Einhaltung des europäischen Rechts demonstriert.

Foto: Reuters / Kacper Pempel

Wieder keine Entscheidung im polnischen Verfassungsgericht: Bereits zum dritten Mal stand dort am Mittwoch die heikle Frage auf der Agenda, ob EU-Recht über dem nationalen Verfassungsrecht stehen kann. Und zum dritten Mal wurde der europaweit mit Spannung erwartete Beschluss vertagt. Ein neuer Anlauf soll am 30. September genommen werden.

Polens Premier Mateusz Morawiecki persönlich hat das Verfahren einst ins Rollen gebracht, nachdem das Land wegen seiner Justizreform ins Visier der Europäischen Kommission sowie des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg gekommen war.

In der EU besteht die Sorge, dass der Umbau der Justiz die Gewaltenteilung im Land untergrabe. Zuletzt hat der EuGH eine umstrittene Disziplinarkammer am Obersten Gericht in Warschau für unzulässig erklärt, weil sie politischen Druck auf Richterinnen und Richter ausüben könne.

"Beeinträchtigung der Rechtsunion"

Das für Mittwoch erwartete und abermals vertagte Urteil zum Vorrang des EU-Rechts sorgte vor allem deshalb für Anspannung, weil es eine wichtige Säule der europäischen Integration, nämlich grenzüberschreitende Rechtssicherheit, infrage stellen könnte. Ein Vorrang für nationales Verfassungsrecht wäre eine "bedenkliche und massive Beeinträchtigung der Rechtsunion EU", sagte kürzlich auch der Europarechtsexperte Walter Obwexer von der Universität Innsbruck im Gespräch mit dem STANDARD.

Während die EU also weiter warten muss, welchen Weg Warschau in dieser zentralen Auseinandersetzung einschlagen will, beschäftigt man sich dort gerade mit einem Urteil, das am Montag im EuGH gefällt wurde: Polen soll demnach jeden Tag 500.000 Euro Strafe an die EU-Kasse zahlen, bis die nationalpopulistische Regierung den Braunkohletagebau Turów im Dreiländereck Polen/Tschechien/Deutschland stoppt. Das hat der EuGH bereits im Mai auf eine Klage Tschechiens hin in einer einstweiligen Verfügung gefordert. Doch Polen ignorierte die Anordnung.

Sinkendes Grundwasser

Da der polnische Tagebau immer näher an Tschechiens Grenze rückt, sinkt dort der Grundwasserspiegel. Der Bergwerksbetreiber muss täglich riesige Mengen Wasser aus der Grube pumpen, um die Kohle abbauen zu können. Das Wasser fehlt dann auf der anderen Seite der Grenze. Premier Morawiecki hat seinen Landsleuten immer wieder weisgemacht, dass er das Problem schon fast gelöst habe und die Tschechen ihre Klage zurückziehen würden. Nichts davon stimmte.

Im Staatssender TVP behaupteten Regierungspolitiker, dass weder der Braunkohletagebau im Dreiländereck stillgelegt noch das Kraftwerk ausgeschaltet werden könnte, da dann Polens Energieversorgungsnetz zusammenbrechen würde. Ihnen zufolge produziert Turów sieben Prozent der landesweit benötigten Energie, während Umweltschützer von gerade einmal drei Prozent sprechen.

Doch die Lizenz für den offenen Braunkohletagebau lief vor kurzem aus. Die Regierung verlängerte sie still und leise um weitere 20 Jahre. Mit den direkt betroffenen Nachbarn im Dreiländereck, die immer wieder gegen Dreck, Lärm und das riesige Loch vor ihrer Haustür protestieren, nahm der Staatskonzern PGE nicht einmal das Gespräch auf.

Juristisches Neuland

Das jedoch verlangen das polnische und auch das EU-Recht, wie Naturschutzaktivisten oft anmahnten. Die Tschechen, denen immer mehr Brunnen versiegten, verklagten Polen schließlich vor dem EuGH.

Polen aber will weder den Tagebau schließen noch die Geldstrafe zahlen. In diesem Fall könnte die EU ihre finanziellen Forderungen mit den an Polen zu leistenden Zahlungen aus dem EU-Haushalt "gegenrechnen", erklärt der Europarechtsexperte Obwexer. Möglich wäre ihm zufolge wohl auch eine Zwangsvollstreckung nach polnischem Recht. Beide Varianten würden in der Wissenschaft vertreten, seien aber vom EuGH bisher noch nicht ausjudiziert worden. (Gabriele Lesser aus Warschau, Gerald Schubert, 22.9.2021)