Bildungsminister Heinz Faßmann warnt davor, die Schulen durch eine überdehnte Rolle bei der Pandemiebewältigung zu überlasten: "Die Schule soll kein soziales Ventil sein."

Foto: Matthias Cremer

Das zweite Schuljahr unter Pandemiebedingungen wurde mit einer dreiwöchigen Sicherheitsphase gestartet. Diese Zeit läuft bald ab. Was dann? Vor allem, was passiert in den Schulen, wenn die Regierung Stufe drei des "Stufenplans für die Ungeimpften" aktivieren muss, weil 20 Prozent der Intensivbetten belegt sind? Und wie viel "Chaos" ist dem System Schule zumutbar – oder gibt es gar keines? Der Bildungsminister wirft dazu auch einen Blick in die Welt der Antike.

STANDARD: Was haben Sie in dieser Pandemie über das Verhältnis von politischer (Ver-)Ordnungsmacht oder auch -ohnmacht und demokratischer Freiheitsgesellschaft gelernt?

Faßmann: Dass es einen Konflikt gibt zwischen dem individuellen Anspruch "Mein Kind darf sich nicht anstecken oder soll gesund bleiben, auch in der Schule", aber auch "Mein Kind hat ein Recht auf Bildung" und dem Anspruch, dass die Gesellschaft für Gesundheit sorgen, aber auch ihre Bildungsverpflichtung einlösen muss. Das ist ein enormer Spannungsbogen, der letztlich nie zu hundert Prozent auflösbar ist. Da müssen wir immer einen Mittelweg finden und auch ein paar Abstriche machen. Es gibt radikale Vertreter auf beiden Seiten. Die einen sagen: "Es gibt keine Gefahr, schickt alle Kinder in die Schule und tut so, als ob nichts gewesen wäre." Die anderen: "Die Gefahr ist riesengroß, die Schule ist ein Ort des eruptiven Geschehens, wir verzichten darauf, individualisieren Bildung und halten die Kinder in einer privaten Sphäre." Wir können letztlich nur Spannung aus diesem Spannungsbogen nehmen und alles tun, um das Recht auf Bildung und gleichzeitig Gesundheitsschutz zu gewährleisten. Das tun wir, indem wir durch oftmaliges Testen dafür sorgen, dass Schule funktionieren kann.

STANDARD: Dieses Spannungsfeld wird von denen, die im System Schule stecken, teilweise als "Chaos" empfunden, weil sie sich zwischen den vielen, mitunter widersprüchlichen Vorschriften und unterschiedlichen Regeln zwischen Bund und einzelnen Ländern überfordert fühlen. Was sagen Sie zu diesem "Chaos"-Vorwurf, den auch die Neos erheben. Sie werfen der Regierung "chaotisches Pandemiemanagement" vor.

Faßmann: Der Begriff des Chaos stammt ja aus dem Griechischen, und Chaos herrschte, bevor die Welt entstanden ist. Wir aber haben Strukturen, wir haben Schule als Institution. Der Begriff des Chaos ist deplatziert, wenn man sich begrifflich ein bisschen auskennt. Natürlich haben wir Maßnahmen gesetzt, die nicht immer zu hundert Prozent zusammengepasst haben, wo es ein gewisses Konsistenzproblem zwischen unterschiedlichen Bereichen wie Bildung, Gesundheit und Arbeitsmarkt gab, aber der Begriff des Chaos ist historisch gesehen falsch platziert. Aber das ist ein Teil des politischen Diskurses, und der lebt von der Übertreibung.

STANDARD: Als Bildungsminister stehen Sie gewissermaßen im Zentrum der Pandemiebekämpfung, weil die Schulen, so hat man den Eindruck, neben den Intensivstationen zum wichtigsten Indikator oder zur eigentlichen Corona-Ampel geworden sind: Wenn es dort blinkt, sind alle alarmiert und verlangen Maßnahmen bis zu den gefürchteten Schulschließungen. Werden die Schulen da nicht auch überfordert, weil sie es quasi stellvertretend richten sollen in der Pandemie?

Faßmann: Absolut, weil die Schule oder das Bildungssystem ein relativ geschlossenes System ist, das einheitlich organisiert ist und wo letztlich alle Erfahrungswerte haben. Wenn ich an den Arbeitsmarkt denke, da haben wir so viele unterschiedliche Beschäftigungssituationen, da gibt es diese Einheitlichkeit nicht, deswegen transportiert man sehr viel in das Bildungssystem hinein, wahrscheinlich zu viel. Aber die Schule soll kein soziales Ventil sein.

Bildungsminister Heinz Faßmann will, dass geimpfte Schülerinnen und Schüler auch zusätzliche Vorteile haben.
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STANDARD: Im Bildungsbereich leuchtet die Corona-Ampel auch deswegen schneller auf, weil es keinen Bereich gibt, in dem so systematisch getestet wird – noch. Denn die dreiwöchige Sicherheitsphase mit drei Tests pro Woche – in den Ländern zweimal Antigen, einmal PCR, in Wien zweimal PCR, einmal Antigen – läuft demnächst ab. Und dann? SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner fordert Tests bis zum Semesterende.

Faßmann: Natürlich testen wir auch nach der Sicherheitsphase weiter – aber nur noch die Ungeimpften. Im Bereich der Sechs- bis Zwölfjährigen ändert sich im Prinzip nichts. Aber wir müssen klarerweise jenen, die Ja zur Impfung sagen, zeigen: Euer selbstgewählter Gesundheitsschutz hat auch eine positive Konsequenz, nämlich, ihr müsst euch jetzt nicht mehr so oft testen.

STANDARD: Dürfen sie freiwillig in der Schule weiterhin Antigen- und PCR-Tests machen, weil sie oder ihre Eltern sich damit vielleicht sicherer fühlen?

Faßmann: Natürlich, jeder darf sich weiterhin testen.

STANDARD: Woher kommt eigentlich diese politische Scheu vor einer wenigstens partiellen Impfpflicht gegen Covid-19?

Faßmann: Also eine Impfpflicht ist schon ein hartes Instrument. Und wir haben aktuell bei den Schülerinnen und Schülern auch schon eine beachtliche Impfbereitschaft. Bei den Zwölf- bis 14-Jährigen liegt die Impfquote bei etwa 25 Prozent, stetig ansteigend, ebenso wie bei den über 14-Jährigen, von denen auch bereits mehr als 55 Prozent geimpft sind.

STANDARD: Aber warum ist es für die Regierung akzeptabel, dass in einer Klasse mit lauter ungeschützten Kindern unter zwölf, die noch nicht gar geimpft werden können, Ungeimpfte lehren?

Faßmann: Ungeimpfte Lehrkräfte in der Volksschule sind ja ein seltenes Ereignis, und sie sind gleichzeitig auch getestet, und zwar in einer Frequenz, wie es sie sonst nirgendwo gibt. Die hilft uns ja zu identifizieren, wer infektiös ist. Wenn wir das nicht zulassen würden, könnten wir uns die Tests ja sparen.

STANDARD:Wie geht es in den Schulen weiter, falls wir demnächst auf Stufe drei des Stufenplans der Regierung landen? Dann würden draußen Antigentests nicht mehr gelten. In den Schulen sind sie aber ein zentraler Baustein. Würde dann auch dort auf drei PCR-Tests pro Woche umgestellt, wie von einigen Experten gefordert?

Faßmann: Wir haben in der Schule immer ein eigenes Testsystem, das von den allgemeinen Testvorschriften abgekoppelt ist. Darum können wir unser System weiterführen – und müssen es wahrscheinlich auch, denn es ist ein unglaublich komplexes System, das auch von der Quantität her den bisherigen Rahmen gesprengt hat. Wir haben bisher 70.000 PCR-Tests pro Tag ausgewertet und kommen jetzt in eine Größenordnung von etlichen Hunderttausend, die wir an 6.000 Schulstandorten logistisch bewältigen müssen. Darum kann ich jetzt nicht versprechen, dass wir alle Antigentests durch PCR-Tests ersetzen. Das wäre unredlich, weil man dafür noch viel, viel größere Kapazitäten aufbauen müsste.

STANDARD: Ein anderes Thema, das bei Risikostufe drei bzw. mit Blick auf Wien schon jetzt schlagend wird, sind Masken. Wien verhängt ab 1. Oktober für alle FFP2-Maskenpflicht im Handel. Gilt das dann auch in den Schulen, wo man viel mehr Zeit verbringt – oder gelten die weiter als extraterritoriales Pandemiegebiet?

Faßmann: Ein extraterritoriales Pandemiegebiet, aber eines, das umfassend getestet wird. Die epidemiologische Unbedenklichkeit aller Schüler, aber auch jedes Lehrers, jeder Lehrerin ist jeden Tag nachweisbar. Es gibt keine Testlücken in unserem System. Aber ja, unsere Sicherheitsmatrix sieht vor, dass die Oberstufenschüler bei Stufe drei Mund-Nasen-Schutz tragen. Wir werden sehen, ob wir da hinkommen. Derzeit haben wir ja eine durchaus positive Entwicklung. Keine Prognose, aber noch ist die Welt nicht verloren. (Lisa Nimmervoll, 23.9.2021)