Vom Waschen bis zur Wundpflege, vom Mutmachen bis zur Gehübung: Pflegerin Wallner braucht Kraft, Feingefühl und Schmäh.
Foto: Ferdinand Neumüller

Es gibt Momente, da wird die eigene Wohnung zum Irrgarten. "Wo muss ich denn hin?", fragt die 83-jährige Dame, als sie zur Morgentoilette ins Badezimmer soll. "Heute simma noch ein bissl durcheinander", erwidert die junge Frau an ihrer Seite und weist den Weg nach links. Dennoch habe ihre Patientin heute einen guten Tag, sagt sie: "Unlängst ist sie am Boden gelegen und hat nicht gewusst, wo sie ist."

Geht Jennifer Wallner auf Tour, muss sie mit unerfreulichen Überraschungen rechnen. Immer wieder kommt es vor, dass sie Klientinnen und Klienten in bedrohlicher Lage vorfindet. Anders als ihre Kolleginnen im Heim oder Spital kann die mobile Pflegeassistentin in solchen Fällen nicht rasch Hilfe herbeirufen, sondern muss – höchstens angeleitet von einem Arzt am Telefon – allein die Troubleshooterin spielen. Ordentlich gezittert habe sie, als bei einer ihrer ersten Ausfahrten eine 91-Jährige plötzlich nicht mehr ansprechbar war, erzählt Wallner. Bei einem Schlaganfall etwa geht es um jede Minute.

Längst gibt es in Österreich zu wenige Frauen und Männer, die sich dieser Herausforderung stellen. Nicht nur Heime suchen Mitarbeiter, auch für die Versorgung in den eigenen vier Wänden fehlt es an Kräften: Personalmangel ist eine der großen Hürden bei der versprochenen Pflegereform. Dabei könne sie sich keine abwechslungsreichere Arbeit vorstellen, sagt Wallner: "Es ist erfüllend."

Routine und viel reden

"Die Jenny ist für die mobile Pflege geboren": Dieser Satz ist im Quartier der Diakonie de La Tour in Spittal/Drau zu hören, als sich die 25-Jährige um 6.45 Uhr in der Früh im Kleinwagen auf den Weg macht. Erste Station ist eine Pension am Millstätter See, wo die Seniorchefin in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoß lebt. Die Gäste schlafen noch, und auch die Hausherrin soll es langsam angehen. Wallner verabreicht erst einmal eine Spritze gegen Thrombosen, ehe die morgendliche Routine beginnt: Duschen, Anziehen, die Versorgung wundgelegener Stellen.

"Ein bisschen aufrecht gehen", rät Wallner, als sie ihre Klientin weiter ins Wohnzimmer geleitet. Lange bleibt sie neben ihr auf dem Sofa sitzen, streichelt den Oberschenkel, liest Bibelverse vor. Viel Reaktion kommt nicht zurück, nur einmal flackert eine Erinnerung aus der Vergangenheit auf. Herrlich sei es gewesen, als das Seeufer noch nicht so stark verbaut war: "Wir sind ins Wasser gesprungen, und die Sorgen waren weg."

So mancher Klient verbringt viel Zeit allein, Wallner ist eine der seltenen Besucherinnen. Reden wird da genauso wichtig wie die eigentliche Pflege.
Foto: Ferdinand Neumüller

So mancher Klient verbringe viel Zeit allein, da die Jungen im Beruf ausgelastet seien, erzählt Wallner, da sei Reden ein besonders wichtiger Teil der Arbeit. Wie ausgiebig das möglich ist, hängt aber nicht zuletzt von der finanziellen Lage der betreuten Menschen ab. Die Länder fördern zwar die mobile Pflege und staffeln die Tarife nach Einkommen. Trotzdem scheitert manche zusätzlich gewünschte Stunde an knapper Kasse.

Für Wallner tut sich als Hindernis hingegen erst einmal eine enge, steile Zufahrt zum nächsten Klienten auf. Eine harte Prüfung seien die Schneemassen des letzten Winters gewesen, berichtet sie, nun bereiten ihr ein paar unorthodox abgestellte Autos Kopfzerbrechen. Prompt drückt sie ihrem Mitfahrer von der Zeitung lächelnd den Autoschlüssel in die Hand: "Männer können einfach besser einparken. Is’ so."

Die Gefahren lauern versteckt

Mit Schmäh kündigt sich Wallner auch im Haus an, das ein älteres Ehepaar samt Tochter beherbergt. "Hallo, schöner Mann!", grüßt sie an der Schwelle zum Schlafzimmer, "hast schon eine Freud’ mit deinen Mädels?" Der 78-Jährige, der schon vor Jahren einen Schlaganfall erlitten hat, antwortet mit einem kurzen Lacher, seine Frau mit einem Schuss Ironie: "Der kimmt uns net aus."

Nun aber ist die Pflegerin gefordert. Sie lehnt sich über den Mann, bringt Arme und Beine in geeignete Position, um ihn schließlich aus dem Bett zu hieven. Im Rollstuhl geht es ins Bad, danach stehen Bettenmachen und Rasieren an. Die FFP2-Maske macht die Arbeit nicht leichter. Zu einem vermummten Gesicht lässt sich schwer eine Beziehung aufbauen. "Gerade Menschen mit Demenz", weiß Wallner, "empfinden das als bedrohlich."

Später, beim Marmeladesemmerl am Küchentisch, ist Akribie gefragt. Wallner geht eine Checkliste mit Aufgaben durch, von den Gehübungen bis zum Wechsel des Inkontinenzschutzes. Jeder Schritt muss dokumentiert, jede Auffälligkeit vermerkt werden. Da dürfe kein Fehler passieren, sagt sie, denn die Gefahren lauerten versteckt. Dramatisch könne es enden, wenn sie etwa übersehe, dass ein Patient schon seit Tagen keinen Stuhlgang gehabt hat – "und das fällt dann auch auf mich zurück".

Grund zur Beschwerde gebe es aber nie, versichern Ehefrau und Tochter, und auch der Mann ist verbal ein Stück in Fahrt gekommen. Sein "Komm bald wieder!" quittiert Wallner schelmisch: "Mich wirst nimma los!"

Den Bezug zu den Älteren verloren

Nicht immer wird die Pflegerin so freundlich empfangen. Es komme vor, dass Klienten Frust an ihr ausließen, eher seien aber Angehörige unwirsch. "Für manche geht die Welt unter, wenn ich wegen Stau oder Schnee um ein paar Minuten zu spät bin", sagt sie: "Das kann an den Kräften zehren. Doch meistens bekomme ich von den Menschen viel zurück."

Warum dann zu wenige diesen Job machen? Wallner sieht dahinter auch ein Zeichen der Zeit. "Ich habe meine Oma schon mit sieben, acht Jahren eingeschmiert", erzählt sie. Doch heute, da die Familienmitglieder meist in alle Himmelsrichtungen verstreut sind, "sehen viele die Großeltern gerade noch übers Internet. Die Leut’ haben den Bezug zu den alten Menschen verloren."

Arbeitsalltag in der mobilen Pflege: "Dieser Job ist meine Berufung. Aber für das, was auch seelisch zu leisten ist, sind das doch eher Peanuts."
Foto: Ferdinand Neumüller

Und ja, die Bezahlung, die von der Großzügigkeit der öffentlichen Hand abhängt, sei nun wirklich nicht üppig. 1.800 Euro brutto im Monat bekomme sie für wöchentlich 31 Stunden, die sie an den Arbeitstagen in einer durch fünf Stunden getrennten Früh- und Abendschicht absolviert. "Dieser Job ist meine Berufung. Aber für das, was auch seelisch zu leisten ist, sind das doch eher Peanuts."

Die Personalnot löse eine bedenkliche Entwicklung aus, befürchtet Wallner. Sie habe den Eindruck, dass aus der Not heraus von "oben" Druck auf die Ausbildungsstätten gemacht werde, nur ja jede und jeden zu nehmen: "Ob die Person da richtig am Platz ist, wird nicht mehr hinterfragt."

Miterlebtes Leid verarbeiten

Die Fahrt zum nächsten Klienten kann düstere Ausblicke verfliegen lassen. Auf dem Plateau über dem See nähert sich die Landschaft Kärntner Postkartenidylle an. Vorbei an Kukuruzfeldern und den omnipräsenten Marterln geht es zu einem Haus in einem üppig wuchernden Garten. Doch wer hinter die blumenverzierte Fassade blickt, landet rasch wieder auf dem Boden ernüchternder Realität.

Ob das erlebte Leid einen nicht runterziehe? Eine gewisse Distanz müsse gewahrt bleiben, sagt Wallner: "Wenn ich Pflegerin werde, weil ich bei einem Ersatz-Opa kompensieren will, was mir in der Familie vielleicht nicht gelungen ist, bin ich fehl am Platz."
Foto: Ferdinand Neumüller

Auf eine endlose Krankengeschichte blickt der 83-jährige Hausherr zurück, mittlerweile ist er in einem Palliativprogramm. Es bleibe dabei nicht bei körperlichen Gebrechen, erzählt die Ehefrau. Immer wieder kämen die Momente, in denen "wie in einem Wasserfall" die Tränen flössen: "Dann ist es so, als würde er sterben."

Diesmal ist es einer der lichteren Tage. Nach und nach hellt sich die Miene des Patienten auf, als die Pflegerin die Körperpflege absolviert und schließlich kniend den von Gicht entzündeten Zeh versorgt. "Immer wieder aufstehen, bist ein Kämpfer", sagt Wallner, das gelte für die sich aufopfernde Ehefrau genauso. "Manchmal möchte ich aber schon ausbrechen", erwidert diese – und sei es nur für zwei Stunden, um zum Friseur zu gehen.

Ob das miterlebte Leid einen nicht runterziehe? Eine gewisse Distanz müsse gewahrt bleiben, sagt Wallner: "Wenn ich Pflegerin werde, weil ich bei einem Ersatz-Opa kompensieren will, was mir in der Familie vielleicht nicht gelungen ist, bin ich fehl am Platz." Sie mache ihren Job, um den Menschen zu dienen – "doch es bleiben Klienten". (Gerald John, 23.9.2021)