Hubert Aiwanger ist seit 2008 Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident Bayerns.

Foto: Oliver Das Gupta

Doch es zieht ihn in die Bundeshauptstadt. Erklärtes Ziel: Mitregieren im Bund.

Foto: imago images/Manngold

Hubert Aiwanger ist erst ein paar Minuten am Wahlkampfstand, da redet er schon über Österreich. Immer wieder würden ihn Menschen aus dem südlichen Nachbarland fragen, ob man seine Freien Wähler (FW) nicht auch zwischen Bodensee und Neusiedler See etablieren könnte. "Freilich nicht als Expansion", sagt Bayerns stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister und grinst: "Ich wäre nur Geburtshelfer." Die Vorstellung gefällt dem 50-Jährigen, es wäre ein für ihn typischer Zug: überraschend, neu und zum Ärgernis der Etablierten.

Aber jetzt macht er erst einmal Wahlkampf in Deutschland. Mit einer Anzughose, Hemd und einer hellbraunen Lederjacke bekleidet steht Aiwanger in der Altstadt von Landshut bei einem orangen Schirmständer seiner Partei. Wenige Tage vor der Bundestagswahl wirbt der FW-Chef in seiner niederbayerischen Heimat um Stimmen mit der Attitüde eines grinsenden Underdogs, der abseits des großen Getümmels auf seine Chance wartet.

Bislang ist seine Kleinpartei in drei deutschen Landtagen vertreten, aber nicht im Bundesparlament. In Umfragen dümpelt sie unter der Fünf-Prozent-Hürde, mal kommt sie auf drei Prozent, mal auf dreieinhalb. Chancen haben die Freien Wähler dennoch, denn CDU und CSU schwächeln. Aiwanger weist maliziös auf die Schnitzer des Kanzlerkandidaten Armin Laschet hin. Es gebe so viele Unentschlossene, sagt der 50-Jährige, Millionen Bürger, die am Sonntag vielleicht doch für seine Freien Wähler als "bürgerliche Alternative" votieren.

Ein Einzug seiner Partei in den Bundestag würde die Regierungsbildung wohl komplizieren, aber nicht aus Aiwangers Sicht, er denkt gleich ganz groß: "Im günstigsten Fall mitregieren" wolle er, in einer Koalition aus Union, FDP, vielleicht auch SPD. Also gemeinsam mit den "kleinsten Übeln", so sagt es Aiwanger zu einem älteren Paar aus Baden-Württemberg und genießt deren zustimmende Reaktion auf seine Worte.

Low-Budget-Kampagne ohne Autogramme

So funktioniert die Low-Budget-Kampagne der Freien Wähler, Plakate sind nur wenige geklebt, auf teure Großveranstaltungen wird verzichtet, an diesem Tag in Landshut gibt es nicht einmal Autogrammkarten des Vorsitzenden. Die Leute bleiben trotzdem stehen und plaudern mit Aiwanger. Er ist einfach nur da, das reicht.

Ständig kommen Passanten, mal bildet sich eine Schlange, mal eine Menschentraube um Aiwanger. Wenige wollen diskutieren, die meisten reden nur ein paar Sätze und bitten dann um ein Bild. Es ist ein ähnlicher Effekt, wie wenn Sebastian Kurz in Österreich auftaucht. Nur, Aiwanger braucht kein Drumherum, keine Musik, keine Inszenierung, schon gar nicht hier in Niederbayern, seinem natürlichen Habitat. Er duzt und wird geduzt, er witzelt auf Kosten von Söder, er hört sich den Ärger über die Politik im fernen Berlin an, Lob nimmt er mit Nicken entgegen. Aiwanger nickt oft an diesem Nachmittag.

Große Bühne als Impfskeptiker

Für einen Aufreger hatte er im Juli gesorgt, als er verkündete, sich vorerst nicht gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Aiwanger platzierte eine populistische Duftmarke, warnte vor einer "Apartheidsdiskussion". Nicht nur in der CSU empörten sich viele, manche stellten die Koalition infrage, viele Artikel erschienen, nur: Passiert ist nichts. Außer dass Aiwanger bundesweit als Impfskeptiker groß rauskam, der vielen Verunsicherten nicht als pfui gilt wie die AfD.

Bei Auftritten wie in Landshut fährt er die Ernte ein: Fast jeder Passant, der mit ihm spricht, lobt seine Standhaftigkeit beim Thema Impfen, weiter so, Schulterklopfen. "Hätte ich nicht die Front gehalten, dann hätten wir schon 2G", sagt Aiwanger einmal. Einer besorgten Mutter sagt er: "Die Schulen bleiben offen." Zwei indischstämmige Frauen kommen vorbei, die jüngere trägt ein Dirndl, eine Kindergärtnerin in München. Sie lasse sich nicht impfen, weil sie einen kleinen Sohn mit angeborener Immunschwäche hat. Und Aiwanger, der sei der "einzige seriöse Politiker, der gegen den Strom schwimmt", sagt die Frau, ihre Stimme habe er. In drei Stunden gibt es lediglich zwei kritische Stimmen. Eine ältere Frau, die sagt, sie werde ihn wegen seiner Impfhaltung nicht mehr wählen. Und einen Radler, der im Vorbeifahren "Impfen lassen" schreit. "Tun wir schon", ruft Aiwanger, "wenn wir Zeit haben." Gelächter der Umherstehenden, Punkt für den Minister, Gaudi-Stimmung.

"Brathendl"-Äußerungen sorgen für Lacher

Dann kommt die Frage nach dem Dialekt, und Aiwangers Laune kippt für zwei Minuten. As, Os und Us können bei ihm spektakulär klingen, Aiwanger schert sich nicht darum: Er redet immer und überall so. Deshalb wird er veralbert, ein Clip mit seinen in Mundart vorgetragenen "Brathendl"- Äußerungen erheiterte auf Facebook, auf Twitter und im Fernsehen, im Landtag nennen ihn manche "Gartenzwerg". Also: Trifft ihn dieser Spott? Aiwanger kneift die Augen zusammen: "Nein", antwortet er in einem Tonfall, der wie ein Ja mit Ausrufezeichen klingt. "Mich wundert nur, dass man in dieser politisch korrekten Welt diskriminiert wird, wenn man im Dialekt spricht", sagt Aiwanger und schneidet dabei mit den Händen durch die Luft. Auf jede Minderheit solle man achten, aber bei Menschen, die Dialekt sprechen, hörten Toleranz und Diversität auf: "Das ist auch eine Art Rassismus", behauptet Aiwanger und sieht sich gemeinsam mit Sachsen und Schwaben herabgesetzt: "Menschen sind doch keine Deppen, nur weil sie Dialekt sprechen."

Aiwanger fängt sich schnell wieder und lässt den kurzen Wutausbruch in Feixerei münden. In den letzten Wochen sei er häufiger aufgetreten außerhalb Bayerns, von Brandenburg bis in den Schwarzwald. "Mich verstehen die Leute überall in Deutschland, aber die CDU und CSU nicht mehr."

Bauernsohn aus Bayern

Der Aufstieg der Freien Wähler ist eng mit der Erosion der CSU-Dominanz im Freistaat und mit dem Bauernsohn Aiwanger verbunden. Geboren wurde er im Landshuter Umland, heute wohnt er immer noch dort. Mit seiner Parteifreundin, der Regensburger Landrätin Tanja Schweiger, ist er ohne Trauschein zusammen, sie haben zwei Kinder.

Den bayerischen Landesverband der Freien Wähler übernahm der Agraringenieur 2006, als Söders Idol Edmund Stoiber noch mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit regierte. "Ich habe eingekauft, als die Aktien billig waren", frotzelt Aiwanger. Eine Parteifreundin habe ihm damals gesagt, er sei nicht ganz bei Trost, denn die CSU bekomme bei der nächsten Wahl sicherlich 80 Prozent.

Es kam bekanntlich anders für die Stoiber-Partei und auch für Aiwanger. Die auf kommunaler Ebene verwurzelten FW wuchsen beständig, 2008 gelang der Einzug in den Landtag, zwei Jahre später übernahm Aiwanger den Bundesvorsitz. Seit 2008 amtiert er als Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident. Kommt man in diesen Tagen an CSU-Ständen auf Aiwanger zu sprechen, löst man bisweilen ein mittelschweres Unwohlsein aus, wildern die Freien Wähler doch regelmäßig in den Zielgruppen der Söder-Partei.

Kümmerer für Schützen und Jäger

Der Chef der Freien Wähler betreibt eine der CSU durchaus wesensverwandte Mischung aus Stammtischsprüchen, bajuwarischer Liberalität und Skepsis gegenüber progressiven Veränderungen, die Söder in seiner Partei vorantreibt. Aiwanger gibt den Kümmerer für "Schützen und Jäger, für die Landbevölkerung, also die Bevölkerungsgruppen, die die CSU aufgegeben hat oder wo sie sich nicht mehr so recht hintraut", behauptet er. Außerdem werfe sich die Partei den Grünen an den Hals und sei verantwortlich für unkontrollierte Masseneinwanderung, behauptet Aiwanger, der sich als Gegenmodell preist: "Ich bin in vielem die bessere CSU."

Und dann sagt Hubert Aiwanger noch Sätze, die vielleicht erklären, warum er einst nicht in die CSU eingetreten ist: Die Söder-Partei geriere sich "großkotzig" und tue so, als ob sie allen die Welt erklären kann. "Das ist die arrogante CSU-Masche." Es werde der Tag kommen, an dem die Freien Wähler deutschlandweit mehr Stimmen bekommen als die nur in Bayern antretende Konkurrenzpartei.

Über die AfD und den wachsenden Rechtsextremismus in Deutschland verliert Aiwanger an diesem Tag kein Wort. Er sagt nur: Die Freien Wähler könnten konservative Menschen davon abhalten, ins Radikale abzudriften. Und tatsächlich erreicht er an diesem Tag in Landshut auch Menschen, die offen mit der AfD sympathisieren, mit seiner Mischung aus Mikropopulismus und Aufforderungen zur "Versöhnung", zum "Zusammenhalt" und zu Toleranz: "Jeda soi macha, wiera will," sagt er.

"Fürs Vaterland" bis nach Berlin

Sollte es diesmal mit dem Einzug in den Bundestag klappen, will Aiwanger auf jeden Fall nach Berlin gehen. "Selbst als Opposition kannst du in Berlin mehr erreichen als in einer Landesregierung", sagt er, deshalb wäre er bereit, seinen Arbeitsplatz in die Ferne verlagern. "Ich würd's fürs Vaterland tun", ruft Aiwanger seinen Zuhörern zu. Ob er damit Deutschland meint oder doch Bayern, das lässt er offen.

Und wenn es die Partei nicht über fünf Prozent schaffen sollte? Dann sollte er sich endlich mal um die Anfragen aus Österreich kümmern, die von rot-weiß-roten Freien Wählern träumen, sagt er. Wo er Wählerpotenzial sieht, stellt Aiwanger auch gleich klar. Sebastian Kurz werde ja von manchen Medien hochgelobt, sagt der Bayer, "aber wenn man genau hinschaut, dann ist sein Corona-Management ein einziges Hin und Her." (Oliver Das Gupta aus Landshut, 23.9.2021)