Soziologe Max Haller schreibt in seinem Gastkommentar über Parlamente und deren Effizienz. Haller fordert Reformen ein.

Das Parlament ist das Zentrum der repräsentativen Demokratie. Es ist daher sehr wichtig, dass es alle organisierten politischen Strömungen vertritt und effizient arbeiten kann.

Für die Wahl zu Parlamenten gibt es, etwas vereinfacht gesprochen, zwei Systeme: das Verhältnis- und das Mehrheitswahlsystem. Beim ersten wird bestimmt, dass jede Partei im Verhältnis ihres Stimmenanteils in das Parlament einzieht, beim zweiten zieht nur jener Kandidat in das Parlament ein, der in seinem Wahlkreis die relative Mehrheit der Stimmen erreicht hat. Damit wird im Parlament in der Regel eine klare Mehrheit erreicht. Der Vorteil des ersten ist, dass alle Strömungen auch politisch vertreten sind, sein Nachteil, dass oft sehr viele, großteils kleine Parteien im Parlament vertreten sind und Regierungsbildungen schwierig werden. Auch die Größe von Parlamenten ist wichtig: Sind sie sehr klein, ist die Chance für die Repräsentation aller Richtungen gering, ist es übergroß, wird seine Effizienz leiden. In diesen und anderen Aspekten gibt es in vielen Ländern Europas und auch auf der Ebene der EU derzeit erhebliche Probleme.

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Wo sind all die Abgeordneten hin? Ein Blick in den Plenarsaal des EU-Parlaments.
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Am Sonntag werden in Deutschland Wahlen zum Bundestag stattfinden, deren Ausgang auch unter diesem Aspekt spannend ist. Deutschland hat den "originellen" Weg gewählt, beide Wahlsysteme zu kombinieren. Der Wähler kann die Erst- und Zweitstimme an unterschiedliche Parteien vergeben; mit der Erststimme wird ein Direktmandat vergeben, mit der Zweitstimme die Mandatsverteilung proportional nach den Anteilen der Zweitstimmen. Hat eine Partei in den Wahlkreisen mehr Direktmandate errungen, als ihr nach der ersten Verteilung zustehen, werden ihr diese als Überhangmandate zusätzlich zugeteilt, wobei die Gesamtzahl der Bundestagssitze so vergrößert wird, dass die letztliche Verteilung dem der Zweitstimmen entspricht.

"Beschaffungsprogramm für neue Hinterbänkler"

Auf diese Weise erhöht sich die Gesamtzahl der Mandate. Anstatt der gesetzlich vorgeschriebenen 598 Abgeordneten sitzen schon derzeit 709 im Bundestag. Es könnte passieren, dass sich diese Zahl nach dieser Wahl weiter – sogar bis zu 1.000 Mandaten – erhöht. Dies würde für den Bundestag ein erhebliches Problem der Schaffung von Büro- und Sitzungsräumen erzeugen. Die Gesamtkosten für den Bundestag haben sich seit 2002 gut verdoppelt – auf nahezu eine Milliarde Euro. Noch gravierender ist die Einbuße an Effizienz. Abgeordnete aller Parteien, die der "Spiegel" kürzlich befragte, sind unisono der Meinung, dass eine Steigerung vermieden werden sollte. So müssten auch die Ausschüsse, in denen die wichtigste Arbeit geleistet wird, vergrößert werden; manche haben schon jetzt fast 50 Mitglieder. Die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth nannte das Wahlrecht "ein Beschaffungsprogramm für neue Hinterbänkler". Sie können kaum noch sinnvolle Aufgaben oder Redezeiten erhalten. Die letztliche Zusammensetzung des Bundestags kann sogar verzerrt sein, sodass eine Partei zwar den höchsten Stimmenanteil, aber nicht den größten Anteil an Mandaten erhält.

Ein nicht minder großer Reformbedarf besteht in Brüssel und Straßburg. Das Europäische Parlament hat derzeit 705 Mitglieder. Nach dem Prinzip der "degressiven Repräsentativität" stellen kleiner Länder proportional mehr Abgeordnete als große. Für Malta sind dies sechs Abgeordnete, für Deutschland 96. Das heißt, dass ein Malteser EU-Abgeordneter 83.000 Wähler vertritt, ein deutscher jedoch 960.000. Dies ist eine immense Disproportionalität, die zwar politisch gewollt, aber in diesem Umfang schwer zu rechtfertigen ist. Österreich liegt übrigens hier in der Mitte; es kommen auf einen EU-Abgeordneten rund 440.000 Wähler.

Nicht wirklich arbeitsfähig

Das Europäische Parlament ist mit seinen zwei Sitzorten weltweit wohl ein Unikum. Mehrmals pro Jahr fahren Lastwagen mit Material der Abgeordneten von Brüssel nach Straßburg und zurück, wenn die Plenarsitzungen dort stattfinden – eine unbegreifliche Verschwendung von Geld und Zeit. In Brüssel wurden ja auch beispielsweise Sitzungssäle gebaut. Das Problem, dass ein so großes Parlament nicht wirklich arbeitsfähig ist, kann man im EU-Parlament direkt beobachten. Nach zweimaligen Exkursionen mit Studierenden nach Brüssel bin ich eher desillusioniert zurückgekehrt.

Auch in Österreich gibt es massiven Reformbedarf. In diesem Fall nicht am Nationalrat, sondern an der zweiten Kammer, dem Bundesrat. Er hat – ähnlich wie der Senat in den USA – die Aufgabe, die Länderinteressen zu vertreten. Seine 61 Mitglieder werden von den Landtagen entsandt. Mit dem verhältnismäßig kleinen, aber mächtigen US-Senat ist der Bundesrat nicht vergleichbar. Er hat ein aufschiebendes Einspruchsrecht (Vetorecht), das überwindbar ist durch einen Beharrungsbeschluss des Nationalrats; ein absolutes Vetorecht hat er nur bei Angelegenheiten, die Länderkompetenzen betreffen. Höchst selten hört man aber, dass dies geschieht. Dies ist auch nicht überraschend, da die Parteienverteilung in beiden Parlamenten ja ähnlich ist. Nicht erst seit dem Österreich-Konvent 2003 ist klar, dass der Bundesrat in der derzeitigen Form eine nahezu überflüssige Institution ist; nahezu alle namhaften Verfassungsrechtler und Politikwissenschafter sehen massiven Reformbedarf. Es besteht weithin die Auffassung, dass der Bundesrat in der jetzigen Form als eine Einrichtung zur Versorgung von altgedienten oder anderwärts nicht mehr erwünschten Politikern anzusehen ist. Eine grundlegende Reform ist nicht in Sicht.

Satte Mehrheit

Wie eine Reform eines Parlaments zustande kommen kann, hat Italien gezeigt. Am 20. und 21. September 2020 gab es eine Volksabstimmung, bei der über die Verkleinerung der Abgeordnetenkammer von 630 auf 400 und des Senats von 315 auf 200 Sitze abgestimmt wurde. Eine vorherige parlamentarische Abstimmung darüber hatte keine qualifizierte Mehrheit gefunden, um ein Referendum zu vermeiden. An der Abstimmung nahmen 51 Prozent der Wahlberechtigten teil; davon stimmte eine satte Mehrheit von 69,9 Prozent für die Reduzierung. Warum ist es in Italien so weit gekommen? De facto allein deshalb, weil hier seit Mitte der 1970er-Jahre auch bindenden Volksabstimmungen ein großes Gewicht beigemessen wird. Allerdings ist auch festzuhalten, dass dem Referendum schon seit langem eine kritische öffentliche Meinung gegen Klientelismus und Korruption der "politischen Kaste" vorangegangen ist. Das konfirmative Referendum, wie das zur Begrenzung der Zahl der Abgeordneten, hat jedoch zur Voraussetzung, dass das Thema vorher auch von einer Mehrheit im Parlament unterstützt wird. Damit wird eine Inflation an Abstimmungen vermieden.

Die angeführten Beispiele zeigen, dass die repräsentative Demokratie oft nicht fähig ist, weithin als notwendig anerkannte Reformen durchzuführen. Man muss daher eine einfache, aber eindeutige Schlussfolgerung ziehen: Die repräsentative Demokratie muss durch Elemente der direkten Demokratie ergänzt (keinesfalls ersetzt) werden. Damit Volksabstimmungen zu so wichtigen Themen zu besseren Ergebnissen führen, wären sie durch gut ausgearbeitete neue Gesetzentwürfe vorzubereiten; dabei ginge es längst nicht nur um die Größe der Parlamente. (Max Haller, 23.9.2021)