Auf den ersten Blick läuft es für die SPÖ in Wien rund. Bürgermeister Michael Ludwig setzt sich in der Corona-Krise mit seinem betont vorsichtigen Kurs erfolgreich vom Bund ab. Im Gegensatz zu Bundeskanzler Sebastian Kurz zeigte sich Ludwig offen für die Aufnahme von Flüchtlingen. Auch die Umfragewerte sind gut. Dass in der neuen Koalition mit den Neos alle Schlüsselressorts in roter Hand sind, unterstreicht die Macht der SPÖ.

Die seit jeher aktive Wohnbaupolitik, der Einsatz für einkommensschwache Personen und der Verzicht auf spalterische Polemik haben sich als Glücksfall für Wien erwiesen. Die Bürgermeisterpartei tut auch gut daran, gesellschaftliche Bruchlinien nicht zu vertiefen, denn Wien ist eine stark wachsende und diverse Stadt – mit allen Sonnen- und Schattenseiten. Alleine zwischen 2005 und 2020 wuchs die Bevölkerung um rund 15 Prozent. Mehr als ein Drittel der Einwohner sind außerhalb Österreichs geboren. Trotzdem sind irreparable soziale Konflikte bisher ausgeblieben. Die Tonalität ist dabei entscheidend: Wäre schlichter Populismus das erklärte Ziel der SPÖ, würde sich an der Zusammensetzung der Bevölkerung zwar nichts ändern, aber die Stimmung wäre mancherorts doch eine andere.

Aus Rot wird Grau

Im Parlament sind die Positionen noch klar: SPÖ-Umweltsprecherin Julia Herr fordert einen "Green New Deal" und warnt: "Die Klimakrise lässt uns keine Zeit!" Währenddessen weht in Wien ein ganz anderer Wind: Hier ist es die SPÖ, die mit ihrer Politik sogar den stadteigenen Klimarat ignoriert. Der Klimarat, dem auch zahlreiche unabhängige Experten angehören, nimmt nämlich kein Blatt vor den Mund: Stadtstraße und Lobautunnel müssen gestoppt werden. Beide Projekte sind Liebkinder der SPÖ. Der Widerspruch zwischen konservativer Planungs- und progressiver Gesellschaftspolitik soll mit viel Werbeaufwand überdeckt werden – aber die "Klima-Musterstadt" als über Gebühr bemühtes Sujet wird das Problem nicht lösen. Daran ändern auch die über 500.000 Euro nichts, die bisher in die Werbung für die Stadtstraße geflossen sind.

Die SPÖ treibt den Straßenbau voran – Experten und Umweltschützer sind dagegen.
Foto: Georg Scherer

Betonierer versus Klimaschützer

Im 22. Bezirk ist die "graue" SPÖ derzeit besonders greifbar. In der Nähe der U2 sind vor wenigen Wochen die Bagger aufgefahren. Während die Stadtregierung "raus aus dem Asphalt" verspricht, wird in der Donaustadt ein Asphalt-intensives Projekt vorangetrieben: Der Bau der Stadtstraße hat begonnen. Das stößt auf Widerstand. Derzeit steht alles still, denn Klimaschützer halten die Baustellen besetzt.

Die Vorarbeiten für den Bau der Stadtstraße laufen bereits.
Foto: Georg Scherer

Die vierspurige Stadtstraße soll die wichtigste Straßenanbindung für die Seestadt Aspern werden. Doch das ist nur der erste Schritt. Nach dem Bau des Lobautunnels und des Teilstücks der Schnellstraße S1 wird die Stadtstraße das Umland mit dem hochrangigen Straßennetz der Stadt verknüpfen. Das Hineinfahren ins Stadtzentrum wird dann attraktiver. Berechnungen von Forschern der Technischen Universität Wien zeigen: Stadtstraße und Lobautunnel werden langfristig wahrscheinlich in Summe viel Autoverkehr anziehen. Die erhoffte Entlastung anderer Straßen dürfte höchstens von kurzer Dauer sein.

Anders als die Stadtstraße werden Lobautunnel und S1 von der Asfinag gebaut, die zum Verkehrsministerium gehört. Ministerin Leonore Gewessler (Grüne) lässt gerade prüfen, ob es diese Straßen wirklich braucht. Ein Planungsstopp ist damit erstmals denkbar, doch die Widerstände sind gewaltig. Nicht nur die ÖVP, sondern auch die Wiener SPÖ tritt nun besonders nachdrücklich für den Schnellstraßenbau ein.

Die Baustellen der Stadtstraße sind von Klimaschützern besetzt.
Foto: Georg Scherer

Ein großer Fürsprecher für den Straßenbau ist der SPÖ-Bezirksvorsteher der Donaustadt, Ernst Nevrivy. 2018 hatte er sogar zusammen mit der ÖVP eine Demonstration für den Bau des Lobautunnels abgehalten. Er verweist auf die stark wachsende Bevölkerung des Bezirks, was den Bau unumgänglich mache. Tatsächlich hat der 22. Bezirk in den letzten Jahrzehnten ein beispielloses Bevölkerungswachstum hingelegt. Was Nevrivy und die SPÖ aber nicht sagen: Der Autoverkehr hat in den letzten 20 Jahren trotzdem erstaunlich wenig zugenommen, teilweise sogar abgenommen. Sowohl in den zentral gelegenen Straßen:

Verkehrszählung Bevölkerung 22. Bezirk ab 1990 innen.
Grafik: Georg Scherer

Als auch bei eher peripheren Messstellen:

Verkehrszählung Bevölkerung 22. Bezirk ab 1990 außen.
Foto: Georg Scherer

Wenn der Autoverkehr also trotz wachsender Bevölkerung nur auf bestimmten Straßen zunimmt – ist es dann wirklich nötig, um 460 Millionen Euro die Stadtstraße zu bauen? Um fast zwei Milliarden Euro Lobautunnel und S1? Reichen nicht lokale Umfahrungen? Und vor allem: Ist nicht schon Jahrzehnte Zeit gewesen, um das Öffi-Netz im durchgehend von der SPÖ regierten 22. Bezirk auf ein hohes Niveau zu bringen?

Mit Straßen die Zukunft (ver)bauen

Die Pläne für die sechste Donauquerung gehen auf das Bundesstraßengesetz aus dem Jahr 1971 zurück. Der endgültige Beschluss, einen Tunnel unter dem Naturschutzgebiet zu bauen, kam 30 Jahre später und dürfte im Wesentlichen von drei Männern getroffen worden sein: Bürgermeister Michael Häupl, Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) aus Niederösterreich und Verkehrsminister Hubert Gorbach (FPÖ/BZÖ). Sie verhandelten nach Abschluss der Umweltprüfung darüber, welche der vorgeschlagenen Varianten gebaut werden sollte – und wählten die schlechteste. Dabei war schon damals klar: Bei einem massiven Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel braucht es den Lobautunnel gar nicht.

Die geplante Trasse wird die Lobau an breitestmöglicher Stelle durchqueren, extrem peripher verlaufen und enorme Flächen verbrauchen. Das könnte sich in Zukunft als veritables Problem für jene erweisen, die jetzt noch die Schulbank drücken. Sie würden als Erwachsene dann eine andere Stadt vorfinden: Mit dem Schnellstraßenbau wird das Pendeln aus Niederösterreich attraktiver, Zersiedlung und Bodenversiegelung könnten rasant steigen, Unternehmen leichter ins Umland abwandern. Ein negativer Kreislauf droht – mit immer mehr Verkehr und immer mehr Verlust von Ackerland.

Alleine der unmittelbare Verlust an Flächen durch den Straßenbau – also noch ohne Zersiedlung – ist hoch. Eine Fläche von der Größe der Wiener Altstadt innerhalb der Ringstraße soll verbaut werden.

Wenn SPÖ, ÖVP und FPÖ verschwimmen

Bei vielen Punkten liegen Welten zwischen Rot, Türkis und Blau. Nicht beim Verkehr: Hier nimmt das Auto einen privilegierten Platz ein. Die Politik im 22. Bezirk ist da geradezu prototypisch. Seit 2019 fordert die FPÖ Sitzung um Sitzung den Bau von Stadtstraße und Lobautunnel. Den Resolutionsanträgen wurde stets auch mit den Stimmen von SPÖ und ÖVP zu einer satten Mehrheit verholfen. Nur die Grünen und fast immer Neos hielten dagegen. Resolutionsanträge sind zwar de facto folgenlos, legen aber doch die Prioritäten offen.

Um die Zustimmung zum Straßenbau kamen aber auch die Koalitionspartner im Rathaus nicht herum: Die Grünen stimmten widerwillig für die Stadtstraße, die Neos tragen ihren Bau jetzt mit. Der Trumpf der SPÖ: Ein Wechsel zur ÖVP stand als Möglichkeit immer im Raum. Ob es wirklich dazu gekommen wäre, hätten Grüne und Neos den Planungsstopp zur Koalitionsbedingung gemacht?

Den Verkehr behübschen?

Während der Bau der Stadtstraße forciert wird, stoppte die neue Planungsstadträtin Ulli Sima einige unter den Grünen geplante Begrünungs- und Umgestaltungsprojekte: Die Aufwertung der Praterstraße und den Umbau der Reinprechtsdorfer Straße. Ob es nicht taktisch klüger gewesen wäre, die von den eigenen Magistraten ausgearbeiteten Pläne einfach umzusetzen und das Resultat für die SPÖ zu reklamieren?

Die Praterstraße hätte zu einem attraktiven Boulevard umgebaut werden sollen.
Foto: Georg Scherer

Sima hat einen anderen Weg eingeschlagen, indem sie sagte: "Ich will nicht mutwillig Autofahrer beschneiden." Dieser allzu durchschaubare Zugang verträgt sich kaum mit der gebauten Realität: Gerade in den zentralen Bezirken gibt es im Verhältnis wenige Pkw pro Einwohner. Trotzdem gehört der öffentliche Raum zu einem großen Teil den fahrenden und parkenden Kfz. Qualitativ hochwertige Freiflächen, verkehrsberuhigte Straßen und Begrünung fehlen. Viele Stadtplätze sind bloße Parkplätze. Wie will die Stadtregierung Begrünungen fördern, wenn die Bodenversiegelung durch Parkplätze und breite Fahrbahnen unangetastet bleibt?

In welche Richtung es bei künftigen Umbauplänen geht, zeigt sich beim Praterstern. Der Verkehrsknotenpunkt im 2. Bezirk wird umgestaltet. Keine einfaches Unterfangen. An einer nachhaltigen Aufwertung sind bisher alle Regierungen gescheitert. Das Grundproblem sind die hohe Verkehrsbelastung und die vielen Asphaltflächen.

Der Praterstern wird bis Sommer 2022 umgestaltet.
Foto: Georg Scherer

An diesem Zustand wird auch die angekündigte Umgestaltung nichts ändern. Vor die Fahrbahnen kommen Bäume und Sträucher. Die Verkehrsflächen und der Asphalt bleiben aber weitgehend unverändert. Natürlich ist jede Begrünung positiv. Eine substanzielle Verbesserung sieht aber anders aus.

Regierung gegen Bürgerforderungen

Bei der Gestaltung des öffentlichen Raums hat Wien Nachholbedarf: viel Asphalt, fehlende Begrünung, fehlende Radwege und eine auf das Auto ausgerichtete Planung sind die Normalität. Viele Menschen empfinden das als ungerecht.

Vor der Wien-Wahl 2020 trat deswegen die Initiative "Platz für Wien" mit konkreten Forderungen an die Parteien heran: "Attraktive Straßen zum Gehen und Verweilen", "sichere Mobilität für Kinder" und eine "sichere Radinfrastruktur" wünschten sich auch die über 50.000 Unterzeichner der zugehörenden Petition. Nie zuvor hatte eine Petition in Wien größeren Zulauf erhalten. Doch das half wenig: Der Petitionsausschuss, in dem SPÖ und Neos die Mehrheit haben, wies das Anliegen ab.

Die überparteiliche Initiative "Platz für Wien" wirbt für eine Verkehrswende.
Foto: Peter Provaznik

Die SPÖ muss sich entscheiden

Klimakrise, Bodenversiegelung und die Zerstörung der Landschaft durch exzessiven Straßenbau sind ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Besonders in den Städten sind Hitze, Mangel an Grünflächen und die ungleiche Verteilung des öffentlichen Raums nicht zu leugnen. Die SPÖ wird sich entscheiden müssen, wie sie mit diesen Ungerechtigkeiten umgeht.

Im Juli 2021 demonstrierten Klimaschützer gegen den Bau des Lobautunnels.
Foto: Georg Scherer

Schon in den 1970ern stand die Partei am Scheideweg. Es drohte die Zerstörung der historisch gewachsenen Struktur Wiens durch den Umbau zur autogerechten Stadt. Aber die SPÖ entschied sich für die nachhaltige Lösung und damit für das Wien, das wir heute kennen. Zu jener Zeit entstanden die ersten Fußgängerzonen, etwa am Stephansplatz. Bürgermeister Felix Slavik stoppte sogar die schon lange geplanten Stadtautobahnen für Wien – gegen alle Widerstände.

Hätten sich die Progressiven damals nicht durchgesetzt, sähe Wien heute anders aus: Über den Gürtel würde eine Autobahn auf einer Hochtrasse führen, die historische Stadtbahn von Otto Wagner (heute: U6) wäre zerstört, die Wienzeile eine Autobahn und die Innere Stadt vollgestopft mit sich stauenden Fahrzeugen.

Eine SPÖ, die nicht in reaktionäre Gefilde schielt, könnte ihren drei traditionellen Pfeilen einen vierten hinzufügen: Klima- beziehungsweise Umweltschutz. Nicht um das Weltklima zu retten, was von Österreich aus illusorisch ist. Aber um die Menschen vor Hitze zu schützen. Um historisch gewachsene Strukturen zu bewahren, anstatt sie durch immer mehr Autoverkehr und Schnellstraßenbau zu zerstören. Und um die Lebensqualität der kommenden Generationen nicht aufs Spiel zu setzen. (Georg Scherer, 24.9.2021)