Ein Vorteil der Maßnahmen gegen Luftschadstoffe: Sie helfen auch beim Klimaschutz.
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Erst kürzlich berichtete die EU-Umweltagentur, dass die Konzentration der Luftschadstoffe in den meisten Mitgliedsländern zu hoch sei. Luftverschmutzung hat massive Folgen und ist in Europa die größte gesundheitliche Umweltgefahr für den Menschen. Etwa sieben bis acht Millionen Menschen sterben auf der ganzen Welt aufgrund der Luftkontamination früher, eine halbe Million Säuglinge dürfte davon betroffen sein. In Indien und Subsahara-Afrika ist die Lage besonders prekär. Aber auch in Europa sterben mehr als 400.000 Personen frühzeitig aus diesem Grund. Laut einer Studie könnten auf unserem Kontinent mehr als 50.000 Todesfälle pro Jahr verhindert werden, wenn man sich an die bisherigen Grenzwerte, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, hielte. Diese wurden nun nachgeschärft – und fallen teilweise fünfmal strenger aus als die in der EU bestehenden Grenzwerte.

Das liegt daran, dass immer klarer wurde, wie schädlich schon geringe Konzentrationen sind, wenn man diesen dauerhaft ausgesetzt ist. Mit den neuen Leitlinien wird auch der aktuelle Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen Luftqualität und Gesundheit veröffentlicht: Die Auswertung begann 2016 und beinhaltet mehr als 500 Publikationen sowie Einschätzungen von externen Sachverständigen. Statt der vor rund 15 Jahren festgelegten Werte empfiehlt die WHO nun wesentlich niedrigere: bei Stickstoffdioxid (NO2), das gerade in Ballungsräumen vor allem auf die Dieselmotoren von Autos zurückzuführen ist, sind es statt 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft jetzt zehn Mikrogramm.

Keine Überraschung für Fachleute

Die Langzeitbelastung mit besonders kleinen Feinstaubpartikeln – einer Partikelgröße bis 2,5 Mikrometer, also PM2,5 – wird für nicht mehr als fünf Mikrogramm pro Kubikmeter Luft empfohlen. Bisher lag die WHO-Empfehlung hier bei zehn Mikrogramm und der EU-Grenzwert bei 25. Beim Feinstaub PM10 sollten es nicht mehr als 15 Mikrogramm (statt 20) sein, die EU empfahl bisher bis zu 40 Mikrogramm.

Für Medizinerinnen und Mediziner ist die Senkung der Richtwerte keine Überraschung. Das betont auch Hans-Peter Hutter von der Medizinischen Universität Wien, stellvertretender Leiter der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin am Zentrum für Public Health: "Das konnte man aus der wissenschaftlichen Literatur der vergangenen Jahre, mit der wir uns ständig auseinandersetzen, ableiten." Er und sein Team fordern schon seit Jahren eine Absenkung des Jahresmittelwerts für Stickstoffdioxid. "Das Ausmaß, speziell was den NO2-Langzeitmittelwert betrifft, wird allerdings viele überraschen, manche entsetzen."

Deutlich unterschätzte Folgen

Laut dem österreichischen Umweltbundesamt zeigt der Vergleich mit Messwerten des Jahres 2020 in Österreich, dass der Jahres- und Tagesmittelwert für Feinstaub PM2,5 an so gut wie allen Messstellen in Österreich höher liegt als die neuen Richtwerte. Der neue Richtwert für Ozon (O3) in der warmen Jahreszeit wird ebenfalls überall überschritten.

An drei von vier Messstellen wird ein höherer Jahresmittelwert gemessen als der neue Richtwert für Stickstoffdioxid. Und an den meisten Messstellen – bei über 80 Prozent – liegt der Tagesmittelwert über dem neuen Richtwert. Bei anderen Werten kommt es hierzulande aber laut Umweltbundesamt zu quasi keinen Überschreitungen. Das ist etwa bei Schwefeldioxid (SO2) der Fall, das verstärkt im Schifffahrtsverkehr auftritt, und bei Kohlenmonoxid (CO).

"Die neuen WHO-Leitlinien zeigen ganz klar: Die Folgen der Luftverschmutzung in der Außenluft wurden lange Zeit deutlich unterschätzt", sagt Umweltmediziner Hutter. Er verweist auf die bereits bisher auseinanderklaffenden Werte der WHO- und EU-Leitlinien. Immerhin sollen die EU-Werte angepasst werden, wie das Europäische Parlament im März dieses Jahres beschlossen hat: Die Rechtsvorschriften zur Luftqualität werden in Abstimmung mit den WHO-Empfehlungen aktualisiert. Geplant ist dies für das dritte Quartal des Jahres 2022.

Gesundheitliche Probleme

In der Europäischen Union sind es 77 Prozent der städtischen Bevölkerung, die laut den neuen Richtwerten Feinstaubbelastungen mit sehr kleinen Partikeln (PM2,5), die bis in die Lungenbläschen vordringen und nachhaltig Schaden anrichten können, ausgesetzt sind. Laut der Weltgesundheitsorganisation lassen sich etwa 80 Prozent der vorzeitigen Todesfälle, die auf Erkrankungen in Zusammenhang mit diesem Schadstoff zurückzuführen sind, vermeiden, wenn die Grenzwerte eingehalt werden.

Diese Krankheiten müssen nicht immer direkt mit dem Atemsystem zusammenhängen. Luftverschmutzung kann etwa Herzkrankheiten und Schlaganfälle begünstigen. Gerade bei Kindern, deren Körper sich ja noch in der Entwicklung befinden, kann durch Schadstoffe in der Luft aber auch das Lungenwachstum gestört werden, Betroffene entwickeln mitunter Asthma-Symptome. Die Lebenserwartung sinkt durchschnittlich um zwei bis drei Jahre.

Maßnahmen und Lobbyismus

Welchen Unterschied Anpassungen an niedrigere Grenzwerte machen können, zeigt der Rückgang der vorzeitigen Todesfälle, der 1990 laut EU-Umweltagentur (EEA) in den Mitgliedsstaaten noch bei einer Million statt 400.000 Personen lag. "Auf allen Ebenen muss es einschneidende Maßnahmen geben: Straßenverkehr, Kohlekraftwerke, Hausbrand", sagt Hutter. Der Vorteil: Viele Maßnahmen sind nicht nur gesundheitlich vorteilhaft, sondern auch gut für den Klimaschutz.

Dass sie nicht schon viel früher gesetzt wurden, hat laut dem Experten auch mit Lobbyarbeit zu tun, die die Einführung von Dieselfiltern oder Tempolimits verzögert und gesundheitliche Effekte herunterspielte. "Bei den Vorgaben der EU handelt es sich um politische Entscheidungen, wie viele zusätzliche Todes- und Krankheitsfälle man als Gesetzgeber toleriert – vor allem aus ökonomischen Gründen", sagt Hutter. Dabei kam es zu immer größeren Unterschieden zwischen medizinisch fundierten Empfehlungen und der gesellschaftspolitischen Realität: "Diese Schere geht immer weiter auf." (sic, 23.9.2021)