Gregory Kunde (links) als Otello.

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Was ist in der Oper beglückender: Perfektion oder Intensität? Im Idealfall bekommt der Zuhörer beides im Kombipack – aber wann sind die Dinge in der unberechenbaren, unwägbaren Opernwelt schon ideal. Bei der Mittwochsvorstellung des Otello konnte man mit Gregory Kunde jedenfalls einen venezianischen Feldherrn erleben, der sich in dieser extrem fordernden Partie weltweit schon in zahllose Stimmmaterialschlachten gestürzt hat, immer mit offenem Visier und voll auf Angriff.

Der Tenor des US-Amerikaners, dessen Karriere verblüffenderweise im lieblichen Belcanto-Land begonnen hat, glich einem mächtigen goldenen Speer, einem Feuerball, der die Weiten der Wiener Staatsoper durchglühte: mit Schneid, Wucht, Dringlichkeit und Intensität. Ja, natürlich zeigte sich der heldisch-metallene Korpus seines Tenors da und dort etwas ramponiert, der Zauber idealer Klangschönheit stand Kunde nicht mehr in allen Registern und Dynamiklevels zu Gebote. Und doch: Was für ein Otello! Und auch körperlich agierte der 67-Jährige mit der Präsenz eines Quarterbacks und der Rastlosigkeit eines Getriebenen: ein Klaus Kinski im Körper von Henning Baums Vater.

Zeitweise auch vokal entflammt

In der eintönigen Inszenierung von Adrian Noble stand Kunde mit Rachel Willis-Sørensen eine Landsfrau zur Seite, deren Desdemona ebenfalls einen gewinnend heterogenen Eindruck machte. Die US-Amerikanerin bespielte timbretechnisch ein weites Feld irgendwo zwischen Brünnhilde und Birgit Sarata. Ihr Patchwork-Sopran bot zwischen staubigen Höhen-Piani, kastanienfarbener Wärme (im Ave Maria) und vibratoseliger Fülle immer wieder große Oper.

Beim Jago des Staatsoperndauergasts Ludovic Tézier musste man wahlweise an Cognacschwenker, Samtsofas, rahmengenähte Schuhe und Ähnliches denken und weniger an einen "unterirdischen Motor" der Intrige, für den die Menschen "analysierbare Puppen" sind, die er "leiden und schreien und töten" macht (Ingeborg Bachmann). Immerhin schien der in seiner Soigniertheit an Peter Ustinovs Hercule Poirot erinnernde Franzose durch das feurige Wirken Gregory Kundes als Otello zeitweise auch vokal entflammt. In seinem Credo im zweiten Akt stieg jedoch die Dämonie des kühl kalkulierenden Fähnrichs der Rache größtenteils aus dem Orchestergraben auf.

Denn da unten brodelte und kochte es ganz enorm: Gleich zu Beginn gingen Bertrand de Billy und das Staatsopernorchester in Verdis tragischem Nachzügler von null auf tausend, und auch der Chor hatte satt zu tun und schonte sich nicht. Ein wundervoll unperfekter, intensiver Abend. Bravi! (Stefan Ender, 24.9.2021)