"Nur weil man eine Behinderung hat, will man nicht ständig darüber schreiben", sagt Katharina Brunner (Mitte hinten) von Andererseits. Die Redaktion will eine Vielfalt von Themen abdecken.

Foto: Stefan Fürtbauer

George Webster ist der erste Moderator mit Downsyndrom bei der BBC. Der 20-Jährige wird dort künftig Kindersendungen präsentieren. Die britische Rundfunkanstalt hat dafür viel Lob in den sozialen Medien erhalten. Auch die österreichische Journalistin Katharina Brunner hält die Vorreiterrolle der BBC für wichtig. Dass Webster wie eine Sensation behandelt wird, zeige aber auch, dass es im Journalismus nicht der Norm entspreche, jemanden mit Behinderung zu engagieren, sagt sie.

Brunner will das ändern: Menschen mit Behinderung sollen auch hierzulande im Journalismus präsenter werden. Die 26-Jährige ist daher Mitgründerin von Andererseits, einem Medienprojekt aus Wien, das der BBC und dem Gros der internationalen Medien in Sachen Inklusion um einiges voraus ist. Denn hier recherchieren, schreiben und podcasten regelmäßig Menschen mit und ohne Behinderung.

Begonnen hat alles mit einem Twitter-Aufruf von Clara Porak. Die freie Journalistin arbeitete im März vergangenen Jahres an einem Artikel mit ihrem Bruder Matthias, der mit dem Downsyndrom geboren wurde. Und twitterte: "Ich möchte ein Projekt für Inklusion im Journalismus beginnen."

Vier Schwerpunkte pro Jahr

Brunner und die Journalistin Katharina Kropshofer schlossen sich der Idee an. Die Lockdowns vereinfachten die Gründung nicht unbedingt, persönliche Treffen konnten kaum stattfinden. Doch was als Experiment gestartet wurde, ist heute ein Medienprojekt, das Kooperationen mit mehreren etablierten Medien hält und 25 Mitglieder hat.

Eines ist Luise Jäger. Die 21-Jährige hat eine Ausbildung zur Verkaufsassistentin in einem Wiener Verein für Inklusion von Menschen mit kognitiver Behinderung gemacht und zuvor noch nie journalistisch gearbeitet. Bei Andererseits schreibt sie Texte, führt Interviews mit Musikerinnen, Autoren oder kürzlich einem Bioladenbesitzer. Einer ihrer Artikel ist im Monatsmagazin Datum erschienen und handelt davon, wie barrierefrei das Internet ist.
Jäger sieht nicht gut und fühlt sich in ihrem Alltag manchmal unsicher, zum Beispiel, wenn sie hohe Stufen steigen muss. Ihre Texte spricht sie daher gerne vor – ihre Projektkollegen schreiben sie für sie nieder. Viele der Artikel, Newsletter und Podcasts von Andererseits entstehen in solchen Zweierteams. Vier inhaltliche Schwerpunkte pro Jahr nimmt sich das Medienprojekt vor, im Herbst soll es um Arbeit gehen.

Gefühle niederschreiben

Wichtig sind vor allem Gefühle, was die Rubrik "Im Gefühl" unschwer erkennen lässt. Hier publizieren die Projektmitglieder Reportagen und Texte aus der Ich-Perspektive. Der Gedanke dahinter: Menschen wie Luise, die oft marginalisiert werden, können so aus ihrer persönlichen Sicht beschreiben, wie sie ihren Alltag und die Gesellschaft wahrnehmen.
"Wir wollen unsere Themen so zugänglich wie möglich machen, und für viele Menschen ist das die Art, wie sie die Welt begreifen", sagt Brunner im Gespräch mit dem STANDARD.
Andererseits ist aber nicht einfach ein Inklusions-, sondern in erster Linie ein Medienprojekt. Es will nicht ausschließlich selbstreferenziell über Inklusion berichten, sondern über jedes Thema. "Nur weil man eine Behinderung hat, will man nicht ständig darüber schreiben", sagt Brunner. "Uns geht es nicht darum, was geschrieben wird, sondern wer schreibt."

Die Rollen sind bei dem Projekt nicht hierarchisch verteilt – man musste erst herausfinden, wie man eine inklusive Redaktion aufbauen kann, die niemanden ausschließt, sagt Brunner. Bei Andererseits arbeiten die Journalistinnen und Journalisten mit einer anderen Geschwindigkeit und erhalten kleinere Aufgaben pro Person als in einer herkömmlichen Redaktion. "Wenn wir es schaffen, eine physische inklusive Redaktion zu haben, wird das ein Raum sein, wo jeder in Ruhe und Schritt für Schritt arbeiten kann", sagt die freie Journalistin.

Andererseits will mit einer langsameren Geschwindigkeit arbeiten als konventionelle Medien. Viermal pro Jahr erscheinen größere Schwerpunkte.
Foto: Stefan Fürtbauer

Inklusion für viele nicht Priorität

Bisher arbeitet der Verein ehrenamtlich, etwas Geld hat er durch Medienkooperationen und eine Förderung durch die Wiener Medieninitiative erhalten. Derzeit sei Andererseits auf der Suche nach einem Finanzierungsplan, erzählt Brunner. Ideal wäre es, Menschen mit Behinderung einen fixen Arbeitsplatz bieten zu können.

In deutschen und österreichischen Medien kommt das Projekt gut an. Viele berichten darüber, dass es längst an der Zeit für das war, was Porak, Kropshofer und Brunner gegründet haben.

Das freut Brunner zwar. Weniger erfreulich hingegen sei, dass trotz der Begeisterung die wenigsten bereit für eine tatsächliche Kooperation mit Andererseits sind. "Wenn wir mit Medien kooperieren, machen wir die inklusive Arbeit, und das Medium erhält den inklusiven Text, aber die Redaktion des Kooperationsmediums hat nicht inklusiv gearbeitet", sagt sie. Vielen Medienhäusern dürfte es an Zeit und Ressourcen dafür fehlen. Aber auch an Bewusstsein und dem Willen dürfte es mangeln. "Für viele hat es keine Priorität, in einem Raum mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten", sagt die Journalistin.

Doch nicht nur im Journalismus, sondern in vielen gesellschaftlichen und Arbeitsbereichen ist es der Fall, dass sich eine Dominanzgesellschaft ihren Raum kreiert und Minderheiten ausschließt, sagt Brunner.

Genau um das Gegenteil geht es aber bei Inklusion. Im Unterschied zur Integration, wo sich eine Minderheit anpasst, um Teil des großen Ganzen zu sein und akzeptiert zu werden, wäre das bei der Inklusion gar nicht erst notwendig. "Inklusion geht einen Schritt weiter und sagt, es gibt keine Norm, und niemand muss sich anpassen. Das ist sehr radikal, weil es alles umwälzt", sagt Brunner. Und so ist es auch im Journalismus, der unsere Gesellschaft nicht abbilden könne, wenn er einen Teil von ihr ausschließt.

Kritik an Medienbranche

Dass die Medienbranche auch an ihrer Art, wie sie über Menschen mit Behinderung berichterstattet, arbeiten muss, kritisierte kürzlich der deutsche Inklusionsaktivist Raul Krauthausen. Auf seinem Instagram-Profil postete er, dass Journalisten oft die falschen Fragen stellen und dadurch ableistisch, also behindertenfeindlich, arbeiten. Auch Brunner glaubt, dass Journalisten diesen Fehler oft machen. Diskriminierende Fragen hätten die Projektmitglieder von Andererseits noch nicht erhalten. Aber solche, die Mitglieder auf ihre Behinderung reduzierten. Grund dafür ist auch, dass viele Menschen im Alltag keine Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderung haben. "Wenn man öfters miteinander zu tun hat, macht man diese Fehler erst gar nicht", sagt die 26-Jährige.

Auch für Luise Jäger bedeutet Inklusion, dass "alle zusammen sind und niemand ausgeschlossen wird. Genau so ist das bei Andererseits. Eine Sendung zu moderieren, wie Webster das bei der BBC macht, kann sie sich auch gut vorstellen. Die angehende Journalistin ist dank Andererseits auf einem guten Weg dahin. Fehlt nur noch das Bewusstsein vieler Medienhäuser. (Allegra Mercedes Pirker, 24.9.2021)