Mentaler Ausbruchsversuch: Oliver Masucci als Gefangener, der in der"Schachnovelle" seinen Intellekt zu retten versucht.

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Die Selbstdiagnose lautet "Schachvergiftung". In Stefan Zweigs berühmter Schachnovelle trägt der von der Gestapo im Hotel internierte Dr. B. so lange imaginäre Partien gegen sich selbst aus, um die Folter der Isolationshaft zu überstehen, bis er dem Wahnsinn nahe ist. Auf dem Ozeandampfer, der ihn aus Österreich ins Exil nach Amerika bringt, tritt er dann das erste Mal gegen einen richtigen Champion an.

Das ist der zentrale Schauplatz dieses so hochkonzentrierten wie rätselhaften Textes, in dem nicht nur das Trauma der Gefangenschaft, sondern vor allem auch jenes der Erosion einer ganzen Welt widerhallt. Zweigs Novelle ist erst posthum erschienen, er nahm sich nach der Fertigstellung gemeinsam mit seiner Frau im brasilianischen Petrópolis 1942 das Leben.

KinoCheck

Für einen Spielfilm stellt die Schachnovelle schwierige Anforderungen. Auf weniger als hundert Seiten entführt sie in das Innenleben eines verzweifelten Mannes und verzichtet dabei weitgehend auf erzählerische Ornamente. Einzig Dr. Bs Gegenspieler, der Weltmeister aus ärmlichen Verhältnissen, wird als zweite Figur plastisch. Zweigs Erzählweise zielt auf die Essenz einer Ohnmachtserfahrung und besticht durch Sparsamkeit, in der das Parabelhafte dann allerdings umso nachhaltiger weiterwirkt.

Reales Leiden

Es ist deshalb verständlich, dass sich Philipp Stölzls (Der Medicus) aufwendige Neuverfilmung – die zweite nach jener von Gerd Oswald mit Curd Jürgens aus dem Jahr 1960 – von dieser Zweig’schen Verdichtung zu lösen versucht. Der Fokus liegt nicht so sehr auf dem Duell auf dem Geisterschiff, bei dem Dr. B. noch einmal sein Trauma durchlebt, sondern auf einer realeren Partie: der Leidenserfahrung von Dr. B., der sich nunmehr in der Haft mit aller Kraft dagegen wehrt, den Nationalsozialisten das Geheimnis der von ihm betreuten Konten zu überlassen.

Dr. B. hat jetzt auch einen längeren Namen, Dr. Josef Bartok, und wird von Oliver Masucci, bekannt aus der Serie Dark, verkörpert. Als Anwalt war er mit dem Kaiserhaus eng verbunden. Zu Beginn des Films frühstückt er gerade noch, während draußen schon die Nationalsozialisten den Anschluss in die Wege leiten. Dass der Plebs auf der Straße die Oberhand gewinnt, daran glaubt er nicht. Er gehört einer Elite an, die keinen Begriff davon hat, wie groß das Ressentiment gegen sie bereits ist, bis er plötzlich gefangen genommen wird.

Mentale Schnitzeljagd

Stölzs Dramaturgie – das Drehbuch stammt vom Letten Eldar Grigorian – verknüpft die filmische Gegenwart im vollkommen leeren Hotelzimmer mit der Erinnerung des Protagonisten; und zwar so lange, bis immer ununterscheidbarer wird, was sich tatsächlich ereignet und was im Kopf von Bartok durcheinandergerät.

Das Möbiusschleifen-Prinzip erinnert an die erzählerische Strategie von Mindgame-Movies, auf die sich etwa Christopher Nolan versteht. Als Zuschauer wird man zum Teilnehmer einer mentalen Schnitzeljagd, für die das Schachspiel als Chiffre steht. Man wird dazu angehalten, einen Plot zu dechiffrieren, angeleitet von Hinweisen, die auch als Auslöser von Rückblenden dienen. Bei Stölzl sind das beispielsweise Uhren, die bedrohlich ticken. Jene an der Bar im Ozeandampfer wird laufend nachgestellt.

Als Mittel, Suspense zu erzeugen, funktioniert das gut. Es hilft dem Film, das Problem zu überwinden, nur über wenige Schauplätze zu verfügen. So gewinnt er einen höheren Grad an erzählerischer Flexibilität. Sobald Bartok im Hotel Metropol in der Isolationshaft sitzt, in der nur das Licht der Außenwelt wie eine Verheißung dringt, verliert man wie dieser selbst sein Gefühl für Zeit. Die Ebenen durchdringen einander immer mehr, das Personal im Hotel und auf dem Dampfer beginnt sich zu gleichen, während die von Birgit Minichmayr gespielte Ehefrau Bartoks wie eine Hitchcock’sche Heldin spurlos von Bord verschwindet.

Geschichte als Hintergrundsfolie

Diese Ausrichtung aufs Genrehafte hat allerdings auch einen Preis. Anders als in Maria Schraders Zweig-Film Vor der Morgenröte, der die Entwurzelung des Schriftstellers im Exil so bewegend greifbar werden ließ, bleibt die Schachnovelle viel abgeschirmter von der historischen Welt. Diese dient hier eher als Folie für eine erzählerische Irrfahrt, als ein Hintergrundpanorama, das mitunter recht plakativ erscheint.

Schon das Wienbild, wo es anfangs im Ballsaal noch heißt, "Solange Wien tanzt, kann die Welt nicht untergehen", ist wie ein Postkartenmotiv geraten. Ein wenig austauschbar wirken auch Bartoks Widersacher, Albrecht Schuchs galant-sadistischer Gestapo-Offizier und Andreas Lust als österreichischer Mann fürs Grobe, die der Film Zweigs Novelle hinzufügt. Einer der Vorzüge des Films liegt jedoch in Masuccis eindrucksvoller Darstellerleistung. Nicht nur gelingt es ihm, Bartoks körperliche, zunehmend dann geistige Derangiertheit glaubwürdig zu machen: Er stellt auch einen Menschen dar, der immer fahriger um seine Würde kämpft. Die Figur beeindruckt daher fast mehr als das Labyrinth, in dem sie sich verirrt. (Dominik Kamalzadeh, 24.9.2021)