Der Mann, der im deutschen Idar-Oberstein an einer Tankstelle einen Werkstudenten erschossen hat, weil er ihn auf die Maskenpflicht aufmerksam gemacht hatte, war tief drinnen in der rechtsextremen Gedankenwelt. Gleichzeitig lebte er in einer Wahnwelt der Täter-Opfer-Umkehr, in der er sich berechtigt fühlte, sich gegen dunkle Mächte, eine "Corona-Diktatur" gewaltsam zu wehren. Er habe sich "in die Ecke gedrängt" gefühlt und habe mit der Tötung des Studenten "ein Zeichen setzen wollen", sagte er der Polizei.

Diese Täter-Opfer-Umkehr haben schon die Nazis betrieben. Sie stilisierten sich als Opfer zugleich der Demokratie, die sie nur als "System" und "Systemparteien" bezeichneten, und der Juden, ja des "Weltjudentums" überhaupt. Das war natürlich einerseits eine monströse Lüge, andererseits ein Hirngespinst, von dem viele der führenden Nazis bis hinauf zu Hitler völlig überzeugt waren. Aus diesem Opfermythos heraus bezogen sie die "Legitimation", gegen die eingebildeten "Feinde" als Täter aufzutreten, auf die furchtbarste Weise der Weltgeschichte.

Leute, denen man auf den diversen Demonstrationen begegnen kann, haben für sich beschlossen, dass sie sich im "Widerstand" gegen eine "Diktatur" befinden.
Foto: AFP/PAUL ZINKEN

Die Nazis waren in ihrer Konsequenz, mit der sie diese Täter-Opfer-Umkehr durchführten, einmalig. Aber die Täter-Opfer-Umkehr hat viele, viele andere Vorläufer und Nachfahren gefunden. Im Ansatz, wenn auch in unendlich kleinerer Dimension, ist das jetzt bei den ganzen Weltverschwörungsgläubigen, bei den "Querdenkern" und QAnon-Leuten, bei den Trumpisten, "Reichsbürgern" und Anti-Impf-Freiheitsschwurblern festzustellen.

Sie fühlen sich als Opfer eines nicht legitimierten Staates, eines "Systems" (der liberalen Demokratie), dunkler Mächte von Bill Gates bis zu George Soros. Manche leiten daraus das Recht ab, Täter zu werden. Aus "Notwehr". Gegen eine Bedrohung, die sie sich herbeifantasieren.

Selbstradikalisierung

Die Publizistin Ingrid Brodnig hat ein gescheites Buch geschrieben, wie man mit Verschwörungsmythen und Fake-News im eigenen, unmittelbaren Bereich und online umgeht (Einspruch!, Brandstätter-Verlag). Das Problem besteht darin, dass ein guter Teil der Corona-Leugner nicht mehr erreichbar ist. Diese Leute, denen man auf den diversen Demonstrationen begegnen kann, haben für sich beschlossen, dass sie sich im "Widerstand" gegen eine "Diktatur" befinden, die ihnen so furchtbare Dinge antut, wie sie halbherzig zum Maskentragen zu verpflichten, oder ihnen begütigend zuredet, sich doch bitte, bitte impfen zu lassen. Sie wollen dieses "System" nicht, sie wollen eigentlich diesen Staat nicht.

Herbert Kickl und Teile der FPÖ gehören dazu. Die FPÖ war anfangs ein Sammelbecken von Nazis, unternahm zwischendurch halbherzige Versuche, sich mit dem Staat Österreich abzufinden, aber der Wunsch nach etwas anderem schlug immer wieder durch. Jörg Haider träumte von einer "Dritten Republik", die er sich als plebiszitär unterlegte Führerdemokratie vorstellte. Kickl verbrüderte sich 2016 auf einer Konferenz in Linz mit einer Großversammlung europäischer Rechtsextremer und Demokratiefeinde. Türkis machte ihn nachher zum Innenminister.

Corona ist der FPÖ, der AfD in Deutschland, der Lega in Italien zupassgekommen, weil es ihnen die Möglichkeit zur Mobilisierung von Leuten gibt, die sich als Opfer fühlen.

Aber die haben auch genug Potenzial zur Selbstradikalisierung. Sie wollen das ganze "System" nicht, suchen teils ihre Vorbilder in Putin oder anderen Autokraten, Corona ist schon fast zweitrangig. In Deutschland heißt es bereits: ein Fall für den Verfassungsschutz.(Hans Rauscher, 26.9.2021)