Die Pandemie habe alle Kinder und Jugendlichen hart getroffen, schreibt Ilkim Erdost, Bildungsexpertin der Arbeiterkammer in ihrem Gastkommentar, aber "manche haben wir gesellschaftlich aus dem Blick verloren". Das gehöre dringend geändert.

Was bisher geschah: Zumindest 74 lange Tage war eine Mittelschulklasse in der Pandemie geschlossen. 74 Schultage ohne Lehrkräfte, ohne Mitschülerinnen und Mitschüler, Klassenzimmer, gemeinsame Pausen. Es war für alle Kinder und Jugendlichen schwierig, für einige schwieriger als für andere – für manche sogar katastrophal.

Die Vereinbarkeit von Homeoffice und Homeschooling war für Eltern herausfordernd. Manche Eltern konnten nicht zu Hause bleiben, weil ihr Job dies nicht erlaubte. Ihre Kinder waren oftmals auf sich allein gestellt.

Österreichs Schulsystem ist auch ohne Pandemie schon sehr selektiv.
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Große öffentliche Aufmerksamkeit gab es auch für die Schwierigkeiten bei den Maturavorbereitungen und die späten Fristsetzungen. Zusätzlicher Stress für viele Familien war die Folge. Gleichzeitig wurden Kinder mit Deutschförderbedarf medial kaum beachtet. Die Sprachstandsfeststellungen wurden vom Bildungsministerium durchgezogen, als wäre es ein Schuljahr wie jedes andere. Betroffen sind vor allem sechs- bis neunjährige Volksschülerinnen und Volksschüler, deren punktuelle Testung darüber entscheidet, ob sie in eine Deutschförderklasse kommen oder wie alle anderen am Regelunterricht teilnehmen dürfen. Diese Entscheidung hat gravierende, nachhaltige Auswirkung auf den weiteren Bildungsverlauf.

Komplett verschwunden

Thematisiert wurde auch, wie sehr Sport und andere Aktivitäten den Jugendlichen fehlen. Gleichzeitig sind viele Mädchen komplett aus dem öffentlichen Raum verschwunden und haben zu Hause mitgeholfen, etwa sich um jüngere Geschwister gekümmert.

Neben den organisatorischen Herausforderungen bedeutet die Pandemie für viele Familien eine enorme finanzielle Belastung: Eltern haben im Schnitt 360 Euro pro Kind für privat finanzierte und organisierte Nachhilfe ausgegeben, um den Lernstoff im Distance-Learning zu bewältigen und ihre Kinder vor möglichen Lernrückständen zu schützen. Fast ein Drittel (27 Prozent) der Eltern, deren Kinder keine Nachhilfe hatten, hätten Nachhilfe für ihre Kinder gerne bereitgestellt. Sie konnten jedoch keine organisieren beziehungsweise finanzieren.

Zahlreiche Unterrichtsinhalte haben während der Pandemie kaum mehr stattgefunden. Gerade Kinder und Jugendliche, die Förderbedarf in Sprachen oder Lernschwierigkeiten in Mathematik haben, konnten nicht auf den Sportplatz oder im Musikunterricht ihr Talent zeigen und damit ihren Selbstwert stärken, Anerkennung bekommen und Gemeinschaft erleben. Für diese Kinder und Jugendlichen sind nicht nur einzelne Fächer weggefallen, nein, sie wurden stärker denn zuvor auf ihre Defizite reduziert.

Erstes Fazit: Die Pandemie hat alle Kinder und Jugendlichen hart getroffen und verändert, aber manche haben wir gesellschaftlich aus dem Blick verloren. Aber auch ganz ohne Pandemie ist das österreichische Bildungssystem selektiv und darauf abgestellt, früh auszusieben.

Einzige Chance

Sie werden mir vermutlich zustimmen: Jedes Kind soll eine gute Schule besuchen. Für einige Kinder ist eine gut ausgestattete, öffentliche Schule, jedoch die einzige Chance auf einen erfolgreichen Bildungsweg. Können Schulen unverbindliche Übungen anbieten? Haben Lehrerinnen und Lehrer ausreichend Zeit, sich differenziert den Lerntempi ihrer Schülerinnen und Schüler zu widmen? Wenn Schulen zu wenig Personal haben, fallen viele Kinder um wichtige Aspekte einer umfassenden Bildung um. All das wissen wir. Doch während der Pandemie hat der tägliche Kampf um offene Schulen, Teststrategien und Indizes so viel Raum eingenommen, dass genau jene Schülerinnen und Schüler übersehen werden, deren Eltern nicht lautstark auf sich aufmerksam machen können.

Was lernen wir aus der Krise? Es reicht nicht, ein, zwei Förderstunden zu finanzieren, wie der Bildungsminister meint. Wer möchte, dass alle Kinder und Jugendlichen eine Chance bekommen, muss im großen Stil investieren und Bildungspolitik neu denken.Die Arbeiterkammer hat einen umfassenden Vorschlag – den AK-Chancenindex – entwickelt, durchgerechnet und breit diskutiert: Je nach Bedarf soll eine Schule mehr Ressourcen bekommen. Wir brauchen zusätzliche Lehrkräfte, die in enger Beziehungsarbeit die Möglichkeit haben, Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft Chancen zu eröffnen und sie beim Lernen zu begleiten. Konkret sind das etwa 300 Millionen Euro mehr pro Jahr für Österreichs Pflichtschulen oder rund 5500 zusätzliche Lehrkräfte. Dazu braucht es multiprofessionelle Unterstützung durch Schulpsychologinnen und -psychologen, Sprachförderung, Logopädinnen und Logopäden sowie mehr Sozialarbeit an den Schulen.

Was Schule leisten soll

Und das Wichtigste: Alles Geld nützt wenig ohne Klarheit, was die Schule für "ihre" Kinder leisten soll. Jede Schule braucht ein Schulentwicklungskonzept, das ihre Kinder mit ihren individuellen Bedürfnissen in den Fokus nimmt. Wir dürfen nicht zu jener Schule zurückkehren, die wir vor der Pandemie hatten. Wir brauchen einen Relaunch der Schule, die Bildungs- und Entwicklungschancen sowie die Stärken jedes Kindes in das Zentrum ihrer Aktivitäten stellt. Wir brauchen Investitionen, die das ermöglichen. Jetzt ist die Zeit, sich das zu trauen.

Den Herausforderungen der Zukunft werden wir uns nur durch massive und umfassende Investitionen in eine gerechte Bildungspolitik stellen können. Dafür müssen wir endlich sagen, was ist, und die Bildungsgerechtigkeit aus dem Lockdown holen. (Ilkim Erdost, 25.9.2021)