Vera-Lotte Boecker als Fusako und Bo Skovhus als Seemann Ryuji.

Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Zu schön, um wahrhaftig zu sein: Das in etwa war der Grundtenor der Kritik nach der Berliner Uraufführung von 1990. Dabei hielt Hans Werner Henze selbst Das verratene Meer für seine beste Oper. Mit überarbeiteten Fassungen für konzertante Aufführungen in Tokio (2003) und Salzburg (2006) konnten das Stück und die Resonanz darauf revidiert werden. In szenischer Form blieb es der Wiener Staatsoper vorbehalten, als erste eigene Neuproduktion der Direktion Bogdan Roščić einen sehr ernsthaften Rehabilitationsversuch zu unternehmen.

Nicht ganz zu Unrecht gilt Henze als Kitschist der neueren Musik: Seine Partituren sind ähnlich illustrativ wie die Richard Strauss’ und fast so tränendrüsenanregend wie die Puccinis, bieten packende Motorik und süße Kantilenen, haarscharf und ohrenschmeichelnd an der Tonalität vorbei.

Stiefvater wird ermordet

Der Roman Gogo no eikô (Der Seemann, der die See verriet) von Yukio Mishima musste ihm aufgrund der enormen emotionalen Nöte der drei Hauptfiguren als gefundenes Opernfressen erscheinen: Alleinerziehende Mutter und halbwüchsiger Sohn, in nicht mehr gesunder Symbiose miteinander verbunden, verlieben sich beide in den Mann vom Meer. Als dieser die Mutter heiratet und sesshaft wird, sieht der Junge einen Verrat an der Freiheit und beschließt mit seiner anarchistischen Bande, den Stiefvater zu ermorden.

Gesanglich und darstellerisch bleiben in dieser ersten Aufführungsserie vor Publikum keine Wünsche offen: Als Seemann Ryuji zeigt Bo Skovhus mit jeder Faser sein Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen Meer und Menschenliebe. Mit charaktervollem jugendlichem Tenor steht Josh Lovell als Noboru – Nicht-mehr-Kind und Noch-nicht-Mann – zwischen der Anziehung gegenüber der eigenen Mutter und homophilen Neigungen. Der Versuch von Fusako (brillant bis zu den forderndsten Koloraturen: Vera-Lotte Boecker), all dies zu harmonisieren, muss scheitern.

Spiegel von Seelenzuständen

Im Bühnenbild von Anna Viebrock entstehen gekonnt monumentale multifunktionale Räume, die sich weiten und verengen und – nur die Worte sind klischeehaft, nicht die Umsetzung – wie Spiegel von Seelenzuständen wirken. Die Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito navigiert geschmeidig durch diese Labyrinthe.

Unter der Leitung von Simone Young darf das Staatsopernorchester wundervoll glänzen, Wärme verströmen und mächtig auftrumpfen. Besonders umsichtig auf Tonband neu geschaffen wurden für die Produktion Hafengeräuschen und Maschinenlärm – Letztere sind eine fast schon schmerzhafte Metapher für Kälte und Gewalt. Ohne diese Schicht wäre das Stück tatsächlich fast zu schön, um wahr zu sein. (Daniel Ender, 24.9.2021)