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Mitglieder der lokalen Wahlkommission bringen Wahlurnen in die Covid-Station eines Krankenhauses der Stadt Twer.

Foto: Reuters / Tatyana Makeyeva

Vor wenigen Wochen war noch alles in Ordnung: Ende August kam Präsident Wladimir Putin zur 800-Jahr-Feier von Nischni Nowgorod. Mit ihm feierten Zehntausende dichtgedrängt das Jubiläum der Millionenstadt an der Wolga. Anfang September veranstaltete der Kreml mit dem "Ostwirtschaftsforum" in Wladiwostok das nächste Großereignis. "Die Pandemie und das Virus selbst werden uns wohl noch lange begleiten, aber das heißt nicht, dass wir das Leben ausbremsen sollen", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow dazu.

Auch die Duma-Wahl wurde plangemäß durchgeführt. Die Beteiligung war mit unter 50 Prozent zwar eher mäßig, zudem hatten die Behörden die Abstimmung offiziell wegen Covid auf drei Tage gestreckt und in einigen Regionen die Möglichkeit einer Online-Wahl eingeführt. Trotzdem bildeten sich am Freitag, dem ersten Wahltag, lange Schlangen vor und in den Wahllokalen – zumeist von Angestellten des öffentlichen Dienstes, die augenscheinlich noch vor Dienstschluss Rechenschaft darüber ablegen sollten, ihrer Bürgerpflicht nachgekommen zu sein.

Wie auf Kommando

Kein Problem, thematisiert wurde dies nur von einigen wenigen Internetmedien, die im Kreml ohnehin als russophob gelten. Aus den Lautsprechern der TV-Anstalten und der staatlichen Nachrichtenagenturen hingegen kam wochenlang die Botschaft, dass alles unter Kontrolle sei.

Die offizielle Statistik bestätigte den Eindruck: Nach einem Hoch im August ging die Zahl der Neuansteckungen auf unter 20.000 zurück. Die Zahl der täglichen Toten blieb zwar hoch, überschritt die Marke von 800 im September aber nicht mehr. Mit erstaunlicher Präzision wurden Ergebnisse von 797, 798, oder 799 erreicht. Bis zur Wahl.

Doch nun gehen die Zahlen wie auf Kommando wieder hoch: Am Dienstag waren es laut Covid-Operationsstab 812 Tote, am Mittwoch 817, am Donnerstag 820 – und dann eben der Rekord am Freitag mit 828 Toten. Auch die Infektionszahlen liegen wieder über 20.000.

Viele hatten schon nach der Ankündigung Wladimir Putins vergangene Woche, sich wegen einiger Covid-Fälle in seiner Umgebung in häusliche Isolation zu begeben, Ungemach befürchtet. Das könnte sich bewahrheiten, denn inzwischen berichten auch die staatlichen Medien verstärkt von der Verschärfung der Pandemie.

Unpopulärer Lockdown

Immer öfter fällt der Begriff vierte Welle, die vom Schulbeginn und vom schlechten Wetter getrieben wird. Russlands oberster Amtsärztin Anna Popowa zufolge stiegen die Infektionszahlen in fast der Hälfte der russischen Regionen sprunghaft an.

Noch dementiert der Kreml Pläne für einen Lockdown. Im Gegensatz zum Westen hat die russische Führung nach einem ersten harten Lockdown im Frühjahr 2020 bei den späteren Wellen darauf verzichtet, die Wirtschaft herunterzufahren, auch weil die Maßnahme in der Bevölkerung sehr unpopulär war.

Stattdessen versuchte die Regierung, mit punktuellen Maßnahmen die Ansteckungsraten zu begrenzen, sei es durch QR-Codes in Restaurants und Geschäften oder damit, Unternehmer zu verpflichten, einen Teil ihrer Belegschaft in Heimarbeit zu schicken. Auch die weltweit erste Zulassung eines Impfstoffs sollte Russland bei der Überwindung der Pandemie helfen.

Doch die Impfkampagne und der Versuch, die Covid-Bekämpfungsmethoden zu justieren, sind gescheitert. Auch wegen der Inkonsequenz vieler Maßnahmen. Laut dem Covid-Operationsstab hat Russland inzwischen 200.000 Tote. Die Statistikbehörde Rosstat, deren Daten mit einiger Verspätung kommen, hat hingegen schon Ende Juli mehr als 300.000 Covid-Tote gezählt. Das sind bei weitem nicht nur Alte. Rund 15 Prozent der Verstorbenen, also 45.000, sind jünger als 60.

Erste Einschränkungen

Und selbst diese Zahlen sind wahrscheinlich noch unterhalb der traurigen Wahrheit, lag die Übersterblichkeit (also die Zahl der Menschen, die mehr als normalerweise gestorben sind) im gleichen Zeitraum doch bei über 630.000. Schätzungen zufolge könnte diese Zahl bis Jahresende auf rund eine Million steigen.

Daher mehren sich die Anzeichen, dass die russische Führung nun härter durchgreifen wird. Erste Einschränkungen gibt es bereits wieder. In einigen Regionen werden die Schulen schon wieder komplett auf Online-Unterricht umgestellt. Auch Angestellte werden verstärkt wieder ins Homeoffice geschickt.

Gerüchten zufolge erwägt die russische Führung, die Impfpflicht nun doch einzuführen. Allerdings ist dies aus politischen Gründen riskant, lehnt doch die Mehrheit der Bevölkerung diese Maßnahme ab. Stattdessen könnte der Kreml auf eine bewährte Taktik zurückgreifen und wie im Vorjahr die Verantwortung für Einschränkungen den Regionen zuschieben. So sagte Peskow zwar, dass im Kreml derzeit kein neuer Lockdown erwogen werde, aber die Regionalgouverneure bei einer Verschlechterung der Lage "besondere Vollmachten" hätten. (André Ballin aus Moskau, 24.9.2021)