Dem türkisen Arbeitsminister Martin Kocher ist da wahrlich der ganz große PR-Coup gelungen, als er verfügt hat, dass Arbeitslosen und Mindestsicherungsbeziehern knallhart ihr Geld gestrichen werden soll, wenn sie ungeimpft sind und deswegen eine Stelle nicht annehmen können. Auf eine geniale Weise hat er damit das ohnehin schon zur Genüge allgemein vorhandene Ressentiment gegen die Langzeitarbeitslosen mit dem katastrophalen Image des „Impfverweigerers“ verknüpft und dadurch das ultimative Feindbild erschaffen: Denn was ist denn schlimmer als einer, der arbeitslos und ungeimpft auch noch ist!

Hierbei handelt es sich um ein schönes Beispiel dafür, wie ein Politiker die aufgeheizte Stimmung in der Pandemie missbraucht, um für seine eigenen Anliegen Kapital herauszuschlagen, die mit Corona gar nichts zu tun haben. Corona dient ihm nur als Vorwand, um ein neoliberales Programm durchzusetzen, aus dem er schon bei seinem Amtsantritt kein Geheimnis gemacht hat: weniger Arbeitslosengeld, weniger Pensionen und längeres Arbeiten, Steuersenkung für Konzerne, Arbeiten am Sonntag.

Ähnlich mag es sich mit der Zürcher Gesundheitsdirektorin Nathalie Rickli, Angehörige der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP), verhalten, die so weit gegangen ist, Folgendes in den Raum zu stellen: Wer Impfgegner sei, „der müsste eigentlich eine Patientenverfügung ausfüllen, worin er bestätigt, dass er im Fall einer Covid-Erkrankung keine Spital- und Intensivbehandlung will. Das wäre echte Eigenverantwortung.“ Eine radikale Wortmeldung, die sie zwar sogleich wieder relativierte, die aber ihre Wellen bis in die österreichische Medienlandschaft schlug und demonstrierte, auf welche Weise die an den Schalthebeln der Macht befindlichen Protagonisten auszuloten versuchen, wie weit sie in der derzeitigen Situation gehen können. Vorläufig handelte es sich nur um ein Gedankenexperiment. Vorläufig.

Aggressive Stimmungsmache gegen eine Bevölkerungsgruppe

Die gesellschaftliche Stimmung, die gegen Ungeimpfte gemacht wird, ist in der Tat allmählich unheimlich. Denn wenn es möglich ist, gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe derartig grausig Stimmung zu machen, dann auch gegen jede beliebige andere. Das ist austauschbar. Es kann morgen genauso Sie oder mich treffen, wenn die Situation danach ist. Eine eigene Gruppendynamik ist da in Gang gekommen. Darum sollte das niemandem von uns gleichgültig sein, auch wenn wir geimpft sind, auch wenn wir in der Sache selbst anderer Meinung sind als die Betroffenen.  

Die Wortmeldungen überschlagen sich regelrecht, und die niedrigsten Instinkte werden dabei bedient. „Volle Härte gegen Ungeimpfte“, schlagzeilt etwa eine Gratiszeitung regelrecht im Jubelton auf ihrer Titelseite.¹ Jedem aber, der sich offen gegen eine Impfung wehrt, wird schon automatisch vorgeworfen, mit „Querdenkern“  gemeinsame Sache zu machen. So geschehen zum Beispiel mit den Fernsehstars Nina Proll und Til Schweiger. Die Schauspielerin Eva Herzig wird vom Boulevard wie eine Verbrecherin abgebildet und darüber in großen Lettern „Impfleugnerin“ geschrieben.² Was auch immer dieses Wort heißen soll, Hauptsache, es klingt scheußlich.

Kein Mitleid habe diese Bevölkerungsgruppe verdient, so lautet der allgemeine Tenor, und man müsse hart gegen sie durchgreifen. Etwa in den Worten des Gemeindebund-Präsidenten Alfred Riedl, dem laut einer Meldung³ „der Geduldsfaden reißt“ und der die Auffassung vertritt, dass diesen Leuten gegenüber Rücksichtnahme „nicht machbar ist“. Sie sollen gefälligst, wie die griffige Formulierung im Bericht heißt, „zur Kasse gebeten werden“.

Eine solche menschenverachtende Sprache bereitet den Boden für mehr. Bedenklich ist vor allem, wie ungeimpfte Menschen nur mehr als Gefahr und Last für die Allgemeinheit dargestellt werden, als Kostenfaktor, als Hindernis, als Störung, als Schuldige, als so eine Art Brunnenvergifter, die durch ihre Frevel schuld sind an Krankheit und Tod. „Mangelnde Solidarität“ wird ihnen vorgeworfen, „Egoismus“ und „Verantwortungslosigkeit“. Sie scheinen das Böse an sich zu sein. Fehlt nur noch, dass einer in die Welt setzt, sie wären „habgierig“, und der strukturelle Antisemitismus wäre perfekt. Kaum mehr wird von ihnen noch wie von gleichberechtigten Subjekten gesprochen, eher noch wie von bloßen Objekten, mit denen man so oder so verfahren müsse. Die Analogie zu parafaschistischen Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozessen liegt auf der Hand, auch wenn sie den Beteiligten nicht bewusst ist.

Das trifft leider auch auf die Vorsitzende der Bioethik-Kommission, Christiane Druml, zu, die es eigentlich besser wissen sollte. Zwar weist sie in einem Interview die Idee Ricklis zurück, ungeimpften Covid-Erkrankten die Behandlung zu verweigern, nimmt aber schlussendlich keine grundlegend verschiedene Position dazu ein, wenn sie es durchaus für denkbar hält, darüber zu diskutieren, dass solche Patienten für die Kosten selbst aufkommen müssen. Es ist geradezu erschütternd, dass eine Ethik-Expertin nicht bemerkt, dass sie mit einer derartigen Wortmeldung bei einer Sozialschmarotzerdebatte aus der untersten Schublade mittut. Im weiteren Zusammenhang spricht sie beschönigend von „Motivation“ für die Ungeimpften, sich impfen zu lassen. Tatsächlich arbeitet sie mit ihren Äußerungen daran mit, ein gesellschaftliches Klima der Einschüchterung, der Angst und der Denunziation zu schaffen. Wenn man das „Motivation“ nennt, dann liegt man freilich auch nicht ganz falsch.

Impf-Apartheid und die Verrohung des öffentlichen Diskurses

Der Druck, der inzwischen auf den Ungeimpften lastet, ist in der Tat massiv. Angesichts dessen ist es eine Dreistigkeit, wenn Druml, und mit ihr die Regierungspolitiker sowie viele Meinungsmacher, beteuern, es gebe keine Impfpflicht. Im strengen Sinne des Wortes besteht diese zwar nicht, aber tatsächlich ist mittlerweile alles so arrangiert, dass Ungeimpften schon aufgrund der dauernden Testpflicht kaum mehr ein normales Leben möglich ist. Hinzu kommt, dass ihnen der Reihe nach grundlegende Rechte aberkannt werden. De facto wird also schon längst ein Impfzwang ausgeübt.

Mit der Einführung der 2G-Regel in Wien sind Ungeimpfte von wesentlicher gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Man hat keine Scheu, die Bevölkerung in zwei Teile zu spalten, in einen, der, mit den Worten Drumls, „seine Rechte zurückbekommen soll“, und in einen, bei dem das eben nicht der Fall sei. Allein diese Sprache ist aber verräterisch: Es ist die Sprache von Fürsten, die von Rechten wie von Gnadenakten reden, die gewährt werden. In solchen Worten drückt sich die herrschende neofeudalistische beziehungsweise postdemokratische Gesellschaftsordnung aus, in der die entscheidungstragenden sozialen Schichten nur mehr über die Betroffenen verhandeln, nicht aber mit ihnen selbst auf Augenhöhe sprechen.

Inzwischen wird sogar die Forderung erhoben, Ungeimpfte aus dem Universitätsleben auszuschließen. Spätestens hier sollten allerdings die Alarmglocken in unseren Köpfen schrillen. Wenn Menschen auf diese Weise aussortiert werden, geht es schließlich um die Setzung von Maßnahmen, die immer offensichtlicher an eigentlich überwunden geglaubte Konzepte totalitärer Staaten erinnern. Wie ist es nur möglich, muss man sich fragen, dass wir über so etwas debattieren, wie kann ein derartiger Vorschlag überhaupt in aller Öffentlichkeit verlautbart und ernsthaft in Erwägung gezogen werden? Was muss da alles passiert sein in den letzten eineinhalb Jahren? Was muss sich in unseren Köpfen verändert haben in dieser Zeit? Denn vor der Pandemie wäre es unvorstellbar gewesen, dass so etwas Ähnliches auch nur angedacht worden wäre.

Ein Erklärungsansatz liegt in der Sprache, die wir gebrauchen und die unser Denken beeinträchtigt. Ich habe an anderer Stelle bereits vor der Verrohung des öffentlichen Diskurses gewarnt, die sich im Verlauf der Corona-Krise manifestiert hat. Eineinhalb Jahre lang hat man es sich zur Gewohnheit gemacht, Andersdenkende mit aggressiven Schimpfwörtern und abfälligen Kampfbegriffen zu überziehen. Ohne Unterlass hat man alle, die von einer bestimmten Linie abgewichen sind, mit einem Bombardement derartiger Ausdrücke zugedeckt, hat sie als „Covidioten“, „Verschwörungstheoretiker“ und „Aluhutträger“ der ständigen Verachtung preisgegeben. Man hat mit den Mitteln der Sprache einen Teil der Bevölkerung sukzessive entmenschlicht. Erst vor dem Hintergrund dieser entmenschlichenden Begriffe, an die wir uns gewöhnt haben, ist aber zu verstehen, dass jetzt über das Schicksal Ungeimpfter wie über das im Grunde rechtloser Untermenschen verhandelt wird.  

Falsche Gleichsetzungen

Hinzu kommt, dass durch die überbordende Verwendung nebulöser Kampfbegriffe die kognitive Fähigkeit zu differenzieren völlig verloren gegangen ist. Andauernd werden Gleichungen suggeriert, die so einfach nicht stimmen. Etwa der folgenden Art: „Corona-Leugner“ = „Querdenker“ = „Rechtsextremer“ = „Verschwörungstheoretiker“ = „Covidiot“ =„Aluhutträger“ = „Maskenverweigerer“ = „Impfverweigerer“.

Sind Impfgegner gleich Rechtsextreme?
Foto: imago images/Gottfried Czepluch

Das alles wird mehr oder minder in einen Topf geworfen. Ignoriert wird dabei völlig, was man im Grunde doch weiß, nämlich dass die Maßnahmen-Kritiker in Wahrheit eine höchst heterogene Gruppe sind und ihre Positionen vor völlig unterschiedlichen weltanschaulichen Hintergründen vertreten. Man sieht aber auch deutlich, dass von dieser langen Kette von falschen Gleichsetzungen die Aggression getragen wird, die sich gegen das zurzeit letzte Glied der Kette richtet, eben gegen die „Impfverweigerer“. Denn diese werden auf eine verschwommene Weise irgendwie den „Corona-Leugnern“, „Rechtsextremen“ und „Covidioten“ zugerechnet.

Dabei haben gerade diejenigen, die sich dafür entschieden haben, sich nicht impfen zu lassen, oft mit „Corona-Leugnern“ überhaupt nichts zu tun. Ganz im Gegenteil, es handelt sich hier häufig um Personen, die große Angst vor Corona haben. Nur trauen sie halt der mRNA-Impfung auch nicht so recht. Und hier gibt es darum eine weitere Gleichsetzung, die so einfach nicht stimmt. Nämlich wenn Leute, die sich gegen die Corona-Impfung entschieden haben, mit dem Stempel „Impfgegner“ oder „Impfverweigerer“ versehen werden. Da stellt man sich irgendwelche im Mittelalter steckengebliebene Dummköpfe vor, die gegen Impfungen überhaupt sind. Das ist jedoch in den allerwenigsten Fällen zutreffend. Die meisten Bedenken in der Bevölkerung bestehen speziell in Bezug auf die Methode der mRNA-Impfung, und das ist bei so einer völlig neuartigen Biotechnologie weder grundlos noch irrational.

Als Beispiel möge das beherzte Outing der Systemberaterin, Juristin und Schriftstellerin Mechtild Blankenagel in der „Berliner Zeitung“ dienen, die das nicht geringe Wagnis unternommen hat, in aller Öffentlichkeit zuzugeben, dass sie ungeimpft ist, und ihren Standpunkt erklärt. Jeder, der dazu bereit ist, kann diesen Text lesen, und dann wird er sehen, mit einem wütend Unsinn daherredenden Attila Hildmann, einem die Rücksichtslosigkeit predigenden Herbert Kickl oder einem wildgewordenen QAnon-Verschwörungstheoretiker vom Schlage Xavier Naidoos hat diese Frau nichts gemeinsam. Man muss mit ihr nicht einer Meinung sein, aber sie erklärt ruhig, vernünftig und nachvollziehbar, wie sie zu ihrer Haltung gefunden hat. Berührend und glasklar drückt sie außerdem das Dilemma aus, in dem sich Personen befinden, welche sich gegen eine Impfung entschieden haben:

„Ich wehre mich dagegen, dass ich als mündiger, selbstständig denkender Mensch ohne weiteres als Verschwörungstheoretikerin und Corona-Leugnerin abgestempelt werde. Menschen wie mich, die nicht verschworen sind und Corona nicht leugnen und sich dennoch nicht sofort und mit Begeisterung impfen lassen, gibt es offiziell in unserem Land nicht. Bestenfalls gelte ich als jemand, der bisher zu faul war, der nur mal seine Trägheit bzw. seinen ‚inneren Schweinehund‘, wie Robert Habeck sich ausdrückt, überwinden muss, um zur einzig richtigen und einzig akzeptablen Tat zu schreiten. Dass ich – nach gründlichem und immer neuem Nachdenken – sehr viele gut begründete Vorbehalte in mir habe, kommt in der medialen und politischen Berichterstattung über ‚Impfverweigerer‘ wie mich nicht vor.“

Außerdem deckt Blankenagel mit einigen wenigen treffenden Worten den Widersinn auf, der in der stereotypen Vorstellung vom grundsätzlich „egoistischen Ungeimpften" liegt: „[…] ich ziehe keinen Gewinn aus diesem Status, zumindest spüre ich ihn nicht, im Gegenteil. […] Wenn ich mich einfach impfen lassen würde, hier und jetzt, würde ich mir eine Menge Stress ersparen.“

In der Tat: Könnte man nicht genauso gut oder sogar mit noch mehr Berechtigung die Geimpften als „Egoisten“ bezeichnen? Sind sie es nicht eigentlich, die es sich bequem gemacht haben, ohne an die Folgen zu denken?

Ungeimpfte als Sündenböcke

Offenkundig ist es, dass die Ungeimpften mittlerweile eine Sündenbockfunktion einnehmen. Sie müssen herhalten für eine Corona-Politik, die von vorne bis hinten nie ihre Versprechungen einlösen konnte. Blenden wir doch noch einmal um eineinhalb Jahre zurück. Was wurde da alles gesagt, im Frühjahr 2020? „Flatten the curve“, lautete damals der Slogan. Ein paar Wochen Lockdown, ein wenig durchhalten, und dann ist alles vorbei, dann können wir unsere Omi und unseren Opa wieder umarmen, wurde uns versprochen. Was wurde uns im Sommer 2020 versprochen? Tragt die Masken, es gibt „Licht am Ende des Tunnels“. Was war das Ergebnis? Im Herbst 2020 der nächste Lockdown, im Folgenden ein eher chaotisches Hin und Her von Lockdown und Öffnungsschritten, das sich weit bis in das Frühjahr 2021 erstreckte. Durch all diese harten und teilweise wirren Maßnahmen verlor eine Unzahl von Menschen ihre Arbeit, wurde wirtschaftlich ruiniert und psychisch krank. Trotzdem hat der Großteil der Bevölkerung dabei gehorsam mitgemacht. Daraufhin wurde uns die Erlösung von der Impfung versprochen, sie werde das Ende der Pandemie bringen.

Fakt ist: All diese Maßnahmen haben nie das gebracht, was man uns versprochen hat. Auch bei der Impfung war im Grunde bald klar, dass sie die versprochene „Herdenimmunität“ nicht bringen kann, weil sie nicht so wirkt, wie man sich das vorgestellt hat. Denn auch doppelt Geimpfte übertragen das Virus, ja, erkranken und sterben sogar daran. Beim Impfstoff von AstraZeneca gab es größere Probleme und sogar Todesfälle. Bei all dem, was da in den vergangenen eineinhalb Jahren passiert ist, sollten Politiker und Meinungsmacher sich nicht über das Misstrauen wundern, das man ihnen entgegenbringt. Und sie sollten weniger über die „Impfverweigerer“ schimpfen, sondern eher in aller Demut froh sein, dass noch keine größeren Unruhen ausgebrochen sind. Dass ausgerechnet die, die für diese ganze Misere die Verantwortung tragen und immer Falsches prognostiziert haben, nun hochmütig auf andere mit dem Finger zeigen und sie an den Pranger stellen, ist eine Unverschämtheit, hat aber seine Logik. Man braucht schließlich einen Sündenbock, um vom eigenen Versagen abzulenken.

Einschränkung des Sagbaren und Böhmermann als Chefvirologe

Bedenklich ist, wie dabei mittlerweile selbst bloß die Regierungspolitik milde kritisierende Personen unter Beschuss geraten. Welche absurden Formen das annehmen kann, das sei an einem besonders kuriosen Beispiel aus Deutschland illustriert. Da wurde dem TV-Moderator Markus Lanz vom Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vorgeworfen, er sei „für den Tod von Tausenden von Menschen verantwortlich“. Warum? Nun, er hatte die „falschen“ Experten eingeladen, solche, die man nicht einladen dürfe, nämlich Alexander Kekulé und Hendrik Streeck.

Nun muss man wissen, worum es sich bei diesen beiden Virologen handelt. Das sind keineswegs Unsinn schwurbelnde „Corona-Leugner“, sondern international renommierte Fachleute, und sie raten auch keineswegs vom Impfen ab. Die Art und Weise des Diskurses, der darüber geführt wird, stellen sie trotzdem infrage, und Kekulé räumt ein: „Selbst unter gestandenen Virologen und Immunologen gibt es nur wenige, die Nutzen und mögliche Risiken der mRNA- und Vektorimpfstoffe umfassend beurteilen können.“ Derlei bedächtige Äußerungen reichen aber mittlerweile schon, damit man mit dem beliebten Kampfbegriff „umstritten“ versehen wird und seinen guten Ruf verliert.

Besonders absurd wurde diese Debatte aber durch die Einmischung des Fernsehsatirikers Jan Böhmermann, der gegen Lanz den Vorwurf der „false balance“ erhob: „Ich finde es schwierig, wenn man Leuten eine Bühne gibt, die eine Meinung vertreten, die man nur deswegen veröffentlicht, weil man sagt, man muss auch die andere Seite sehen.“ Später ergänzte er auf Twitter: „Meinungen im öffentlichen Raum sollten einer strengen, umfassenden medialen und gesellschaftlichen Qualitätskontrolle standhalten.“

Nun muss man sich aber mal die Absurdität einer solchen Intervention vor Augen halten. Da will also ein Fernsehsatiriker, der selbst alles andere als ein Experte ist und von Virologie und Immunologie vermutlich nur eine sehr geringe Ahnung hat, einem TV-Moderator autoritär vorschreiben, wer ein „richtiger“ Virologe ist, den man einladen darf, und wer nicht. Und die Frage, warum er dann selbst das Recht für sich in Anspruch nimmt, zum Thema Corona mitzudiskutieren, wenn doch unter strikter Überwachung der „Qualität“ nur mehr einer ganz erlesenen Elite von Fachleuten mehr Äußerungen dazu erlaubt sein sollen, die sollte er sich einmal stellen. Einem Kekulé, einem mit zahlreichen Wissenschaftspreisen ausgezeichneten Fachmann, der immerhin jahrelang Berater der deutschen Bundesregierung im Sachen Seuchenschutz war, und einem Streeck, der gleichfalls international eine hohe Reputation genießt, will er die Bühne verbieten — aber für sich selbst beansprucht er sie. Und er glaubt, das wäre dann die „right balance“? Das ist allerdings Satire, wahrlich. 

Wer ist hier wirklich rechts?

Feststellbar ist eine Entwicklung zum Autoritären. Doch keineswegs nur — wie es erst kürzlich von einer Studie behauptet wurde — bei den „Corona-Leugnern“, „Impfverweigerern“ und so weiter, sondern gerade auch in der Mitte, bei den Impfbefürwortern. Man sehe sich inzwischen gängige Formulierungen an wie: „Wer keine Impfung will, muss Konsequenzen spüren“. Das ist die Rückkehr zum Rohrstock, das Rufen nach der starken Hand, die durchgreift.

Völlig neu sind diese autoritären Tendenzen der Mitte freilich nicht. Bislang hat sie ihre Aggression allerdings eher an Einzelpersonen ausgelassen: Man wettert etwa gegen einen Schriftsteller, an den man den Literaturnobelpreis aufgrund seiner politisch nicht opportunen Ansichten lieber nicht verliehen sehen würde, man betreibt „Cancel Culture“, und die politische Korrektheit lebt schon länger davon, Menschen zu maßregeln oder gar an den Pranger zu stellen. Ja, man scheut nicht davor zurück, Bücher umzuschreiben, wenn die darin verwendeten Ausdrücke ideologisch nicht genehm sind. Neu an der derzeitigen Situation ist allerdings, dass eine ganze Bevölkerungsgruppe Zielscheibe der autoritären Aggression wird, und ich brauche wohl nicht zu erklären, wie gefährlich eine solche Entwicklung ist. Teilweise wird ja hier schon in einem Ton gesprochen, der an den Stil erinnert, in dem man vor fast hundert Jahren über „Volksschädlinge“ gesprochen hat.

Wenn auf einer Corona-Demo auch nur irgendwo am Rand ein Martin Sellner oder ein Gottfried Küssel gesichtet wird, titelt der hysterische Boulevard schon gleich in dicken Lettern: „Rechter Aufmarsch bei Mega-Demo“. Ich selbst aber sehe eigentlich mittlerweile überall nur mehr Rechte, da wie dort, und vor allem gerade unter jenen, die sich heutzutage fälschlicherweise als „links“ bezeichnen. 

Man weiß bloß heute gar nicht mehr, was "links" eigentlich wirklich bedeutet. Das Bewusstsein davon ist in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen. Wirklich „Linkssein“, das hieß früher einmal nämlich so etwas wie eine fundamentale gesamtgesellschaftliche Analyse zu versuchen, eine Kritik der bestehenden Verhältnisse, eine intellektuell anspruchsvolle Herrschaftskritik voranzutreiben, anstatt bloß in aller Selbstzufriedenheit zu moralisieren, mit Schmähparolen um sich zu werfen und sich in billigen Schuldzuweisungen zu üben. 

Der offene Rechtsextremismus, der von einem Sellner oder von einem Küssel kommt, ist in Wahrheit unbedeutend, die Gefahr, die von einer FPÖ ausgeht, ist schon konkreter, aber das alles macht mir wesentlich weniger Sorgen als dieser verschleierte Extremismus, der aus der Mitte kommt, von Leuten, die sich einbilden, sie wären „links“, während sie tatsächlich gerade im Namen des Anti-Faschismus selbst immer mehr totalitaristische Positionen vertreten und ein Klima der Intoleranz heranzüchten.

Es handelt sich um einen Extremismus, der aus einer ungeheuerlichen Arroganz der gesellschaftlichen Mitte kommt, die für sich in Anspruch nimmt, alles von ihren Maßstäben Abweichende mit ihren grauslichen Labels abstempeln zu dürfen. So frage ich mich beispielsweise, was im ORF-Nachrichtenmoderator Armin Wolf vorgeht, wenn er stolz jenes Gerichtsurteil präsentiert, das ihm bestätigt, dass er jemanden als „Corona-Leugner“ beschimpfen darf. Glaubt er allen Ernstes, damit hat er etwas Gutes für die Menschheit erreicht? Tatsächlich hat er nur sein Scherflein zur fortschreitenden Verrohung beigetragen. Wenn so jemand auch noch glaubt, er sei ein „Linker“, dann hat er sich gründlich geirrt. Und viele Leute haben den andauernden Hass satt, der inzwischen von allen Seiten tobt. Mir selbst aber machen diese Entwicklungen, ich gestehe es offen, Angst.

Schauen wir, was in ein paar Jahren sein wird

Auch ich selbst habe geschwankt, ob ich mich impfen lassen soll oder nicht, aus sehr ähnlichen Gründen wie Blankenagel. Nach einer Risikoabwägung habe ich mich schließlich für die Injektion entschieden, aber es hätte genauso gut anders ausgehen können. Überzeugt bin ich, wie so viele andere, die schließlich nachgegeben haben, nicht. Wer weiß, in ein paar Jahren werde ich dafür vielleicht mit gesundheitlichen Schwierigkeiten bezahlen, von denen ich jetzt noch keine Ahnung habe. Ob ich meine Kinder impfen lassen würde, wenn ich welche hätte? Ich denke nicht. Dieses Risiko einzugehen, das kann ich lediglich für mich selbst entscheiden, nicht für andere. Darum verlange ich auch ganz sicher von niemandem, dass er sich impfen lässt, und halte es für vollkommen illegitim, auf irgendjemandem einen Druck in diese Richtung auszuüben. So etwas hat die Entscheidung eines jeden selbst zu sein.

Blankenagel hat ein sehr gewichtiges Argument auf ihrer Seite, das im Prinzip auch das meine sowie eines ungeimpften Freundes ist und in etwa der oben zitierten Aussage Kekulés entspricht: Auch wenn nun der Reihe nach unzählige Studien und Experimente aus dem Ärmel geschüttelt werden, auch wenn jetzt noch so viele Experten aufstehen und beteuern, dass der Impfstoff „sicher“ sei: In Wahrheit kann zum derzeitigen Zeitpunkt niemand wissen, was eine mRNA-Impfung alles im Körper bewirkt. Die langfristigen Folgen von Covid-19-Impfungen derzeit vorauszusehen, ist einfach unmöglich. Das sind Dinge, die man erst in zehn Jahren wissen wird. Darum ist der Vergleich mit der Impfung für Pocken und Masern haltlos. Hierbei handelt es sich um eine über sehr große Zeiträume erprobte konventionelle Impftechnologie. Das ist also eine ganz andere Debatte.

Kein noch so hoch entwickeltes Zulassungsverfahren kann im Falle der mRNA-Technologie absolute Sicherheit bieten, da hier einfach die Erfahrung fehlt, das kann jeder bestätigen, der sich mit dem schwierigen Problem von Arzneimittelschädigungen auskennt. Schon bei herkömmlichen Medikamenten können sich trotz Zulassung ganz unerwartete Dinge ereignen. Wirkmechanismen sind oft sehr komplex, und es dauert manchmal sehr lange, bis die ersten Beschwerden auftreten, und dann dauert es oft noch einmal viele Jahre, bis sie allmählich in Zusammenhang mit einer bestimmten medizinischen Behandlung gebracht werden. Gerade bei so einer speziellen und neuartigen Technologie wie der mRNA-Impfung ist ein derartiges Szenario natürlich erst recht nicht auszuschließen. Jeder, der sich impfen lässt, geht ein Wagnis ein, das keiner von uns abschätzen kann und über das nur jeder selbst für sich entscheiden kann.

Viele schütteln jetzt den Kopf über die Ungeimpften, finden sie dumm und gefährlich oder lachen sie aus. Aber wer weiß, vielleicht haben sie recht, und in einigen Jahren haben wir Geimpften tatsächlich schwere gesundheitliche Probleme, und dann stehen vielleicht sie neben uns am Krankenbett und lachen umgekehrt über uns und sagen: „Was wart ihr denn auch so dumm, euch mit einem Präparat impfen zu lassen, bei dem man noch nicht wissen konnte, was es alles bewirkt?“

Und dann überlegen sie sich vielleicht, warum sie denn für unseren Krankenhausaufenthalt zahlen sollen. Denn das will ich den Fanatikern unter den Impfbefürwortern mitgeben: Was Gerechtigkeit ist, das versteht man immer erst dann, wenn man sich ein bestimmtes Szenario mit vertauschten Rollen vorstellt. (Ortwin Rosner, 7.10.2021)

Fußnoten

¹ oe24, 9. September 2021

² Heute, 15. September 2021 S. 10

³ Heute, 15. September 2021 S. 5

⁴ oe24, 13. September 2021 S. 8

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