Wer auch immer neuer Regierungschef in Berlin wird – für die meisten EU-Partner stand schon lange vor den Wahlen eines fest: Um Deutschland muss man sich keine allzu großen Sorgen machen. An der grundlegenden Orientierung und Hinwendung zur Europäischen Union werde sich praktisch nicht viel ändern.

16 Jahre lang ein gewohntes Bild: Angela Merkel bei ihrer Ankunft im "Flaggenwald" von Brüssel – zuletzt freilich wegen der Pandemie mit Maske.
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Man kenne sowohl CDU-Chef Armin Laschet wie den SPD-Spitzenkandidaten Olaf Scholz in Brüssel gut, heißt es in Kreisen der EU-Kommission. Beide seien "bewährte Europäer", man werde sich auf sie verlassen können, heißt es etwa in der Kommission. Beide seien vernünftige Politiker der Mitte, die auf EU-Ebene eine solide Arbeit vorzuweisen hätten. Experimente? Sehr unwahrscheinlich, nicht zu erwarten.

Die Unterschiede und Akzente zwischen einer von Scholz oder Laschet geführten Regierung würden sich inhaltlich vor allem aus der Zusammensetzung der Parteien in einer Koalition ergeben, hieß es vorab.

Umbau Deutschlands

Sollte der CDU-Mann Laschet zum Zug kommen und mit FDP und Grünen eine Jamaika-Koalition bilden, würde eine solche dem gesamteuropäischen Programm weitgehend entsprechen, das die EU-Kommission gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten und dem EU-Parlament seit 2019 erarbeitet hat: volle Kraft voraus für Zukunftsinvestitionen, den Klimaschutz, den Green Deal, den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft auch auf dem Gebiet des Digitalen – bis hin zu einer Verstärkung der Außen- und Sicherheitspolitik.

Nicht viel anders wäre das prinzipiell, wenn SPD-Mann Scholz eine solche Allianz mit FDP und Grünen als Ampelkoalition (Rot-Gelb-Grün) aufstellen würde. In diesem Fall erwarten Experten, dass Deutschland einen stärkeren Akzent auf die soziale Abfederung der Reformprogramme setzt – aber auch mehr auf eine Vergemeinschaftung und Erhöhung von Umweltsteuern und Großkonzernen, die den Binnenmarkt nutzen, um sich Steuern zu ersparen. Von Laschet wird erwartet, dass er in der Finanz-, Wirtschafts- und Europolitik eher zu jener Linie zurückkehrt, die die noch amtierende Kanzlerin Angela vor der Corona-Krise noch mit Verve vertreten hat: der Einforderung sauberer, nachhaltiger Haushaltsführung in den Eurostaaten, weg von der Politik der schnellen Schulden.

Milliardenschweres EU-Programm

An dem Ende 2020 beschlossenen Wiederaufbauprogramm im Volumen von inzwischen 800 Milliarden Euro als Teil des regulären EU-Budgets, das durch eigene EU-Einnahmen in der Zukunft finanziert werden soll, ändert das nichts mehr. Dieser Wiederaufbauplan, den Merkel vor allem mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Sommer 2020 kräftig unterstützt hat, ist auch an die Einhaltung von Werten und EU-Grundrechten gebunden. Der Wiederaufbaufonds, der Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung und Gesundheit vorsieht, ist vermutlich auch das einzige größere und sichtbare EU-Projekt, das die scheidende Kanzlerin ihren Nachfolgern überlässt.

Apropos Merkel: Sie tritt nach 16 Jahren mit positiven Beliebtheitswerten von der europäischen Bühne ab, wie es sie wohl noch nie gegeben hat. Das Infoportal Politico veröffentlichte dieser Tage eine weltweite Erhebung, die das Vertrauen in die deutsche Kanzlerin erhob. Nicht nur rund um den Globus und in Deutschland genießt sie bei den Bürgern höchstes Ansehen, auch bei den EU-Partnern, mit Werten um die 70 Prozent Zustimmung. An der Spitze liegen die Niederlande (80 Prozent, vier von fünf Niederländern haben Vertrauen in die Kanzlerin), ähnlich auch in Frankreich.

Kein Zufall, dass Präsident Macron sie mit einem Ehren-Diner im Élysée in Paris besonders verabschiedete. Aber der Franzose rechnet bereits mit dem neuen Kanzler: Sowohl Olaf Scholz wie auch Armin Laschet hat er im Wahlkampf empfangen: in dieser Reihenfolge. Offene politische Baustellen in der EU gibt es für alle genug. (Thomas Mayer aus Brüssel, 27.9.2021)