Der Wahlkampf in Deutschland war ein Wettbewerb, wer am ehesten jene Stabilität fortsetzen kann, die Angela Merkel 16 Jahre lang verkörpert hat. Das Wahlergebnis bringt nun aber genau das Gegenteil von Kontinuität. Diese Bundestagswahl verändert das politische Gefüge deutlich. Die Verluste bei der Union sind enorm. Vor vier Jahren lagen CDU/CSU bei fast 33 Prozent, jetzt sind es nur um die 25 Prozent geworden. Ob Union oder SPD stärkste Fraktion wird, ist am heutigen Wahlabend bislang noch offen. Es zeichnet sich aber ab, dass die Sozialdemokraten leicht vorne liegen.

Zu Beginn des Wahlkampfes wäre ein solches Ergebnis der Union undenkbar gewesen. Armin Laschet galt als Favorit, die Politik von Angela Merkel fortzusetzen. Dann sind ihm aber einfach zu viele Pannen passiert – Pannen, die ihn im Vergleich mit Merkel wenig staatsmännisch wirken ließen. "Wer Laschet wählt, wählt Merkel 2" – das hat die Realität bei Bewährungsproben wie dem Hochwasser einfach nicht hergegeben. Da der Wahlkampf eher arm an konkreten Themen war, hatten Nebensächlichkeiten wie Gelächter im falschen Moment ein hohes Gewicht. Seine weitere politische Karriere hängt auch davon ab, wie CDU und CSU mit dem Wahlergebnis umgehen.

Die Kanzlerkandidaten Olaf Scholz (SPD) und Armin Laschet (CDU).
Foto: AFP/JOHN MACDOUGALL

Pannen sind Olaf Scholz hingegen keine passiert. Ihm ist vielmehr eine Aufholjagd gelungen, seit er im Frühjahr bei Umfragewerten von 15 Prozent gestartet ist. Sein Wahlkampf lief völlig konträr zu jenem der Grünen: Sie sind mit Kanzlerinnen-Ambitionen in den Wahlkampf gestartet, im Frühjahr lagen sie in Umfragen sogar kurz auf Platz eins. Doch seitdem ging es bergab, unter anderem wegen der Patzer von Spitzenkandidatin Annalena Baerbock. Es ist zwar das beste Ergebnis in der Geschichte der Grünen – an ihren eigenen Erwartungen sind die Grünen aber gescheitert.

Machtpoker

Mitregieren können die Grünen nun vermutlich trotzdem, denn ein Zweierbündnis ist unwahrscheinlich: Eine große Koalition aus Union und SPD galt schon nach der letzten Wahl nur als Notlösung. Weder Union noch SPD sind stark genug, um gemeinsam mit einem zweiten Partner eine Regierungsmehrheit zu erzielen. Auch die Wahlgewinner SPD und Grüne haben gemeinsam keine Mehrheit. Daher wird die nächste Koalition aller Voraussicht nach aus drei Parteien bestehen.

Automatisch Kanzler wird der Spitzenkandidat der größten Partei dabei nicht, das zeigt auch die Geschichte. Scholz und Laschet haben beide bereits am Wahlabend den Anspruch auf das Kanzleramt angemeldet. Nun kommt es darauf an, wer im Machtpoker der Verhandlungen ein stabiles Bündnis schaffen kann. Das ist die Chance für Grüne und FDP. Eine Ampelkoalition um Scholz oder eine Jamaika-Koalition um Laschet: Beides hängt vom Willen der Grünen und der FDP ab, ihnen fällt die Rolle der Kanzlermacher zu. Die FDP steht der Union inhaltlich näher; Parteichef Christian Lindner hat aber ein Bündnis mit der SPD nicht ausgeschlossen.

In der Theorie ist der nächste deutsche Kanzler so schwach wie kein anderer vor ihm, da seine Macht von nun gleich zwei Partnern abhängt. In der Praxis kommt es daher auf sein Geschick an, sich eine starke Position zu sichern. Gerade jetzt, da die USA alte Allianzen überdenken und die EU feststellt, dass die Amerikaner nicht mehr für Europas Interessen in die Bresche springen, braucht Europa einen starken deutschen Kanzler. (Martin Kotynek, 26.9.2021)

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