Viele britische Tankstellen sind leer – die Regierung überlegt jetzt, Soldaten als Lkw-Fahrer einzusetzen.

Foto: AFP/PAUL ELLIS

London – Die Regierung in Großbritannien mobilisiert zur Bewältigung der Kraftstoffkrise das Militär. "Falls erforderlich, wird der Einsatz von Militärpersonal die Versorgungskette vorübergehend mit zusätzlichen Kapazitäten unterstützen, um den Druck zu lindern, der durch die erhöhte Nachfrage nach Kraftstoff entsteht", teilte Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng am späten Montagabend mit. Eine begrenzte Anzahl militärischer Tankwagenfahrer sei schon in Bereitschaft versetzt.

Wegen Panikkäufen waren in einigen Landesteilen laut Angaben des Branchenverbands PRA bis zu 90 Prozent der Zapfsäulen trocken geblieben. Grund für den Mangel an Benzin und Diesel sind fehlende Lkw-Fahrer und die daraus resultierende Behinderung der Lieferkette von den Kraftstoffunternehmen zu den Tankstellen. Schätzungen zufolge fehlen landesweit bis zu 100.000 Fahrer. Viele sind nach dem Brexit auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt. Schätzungen zufolge wanderten etwa 20.000 vor allem osteuropäische Fachkräfte ab. Zudem behinderte die Corona-Pandemie Ausbildung und Prüfungen neuer Fahrer – es wurden etliche Fahrstunden und -prüfungen verschoben.

Ärzte kommen nicht zur Arbeit

Es musste so weit kommen, dass die ersten Tankstellen schließen, bis die britische Regierung tätig wurde. Ärzte schlagen bereits Alarm, sie könnten ohne Sprit bald nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen. Zeitlich befristete Visa für Fernfahrer und andere Ausnahmen sollen nun Abhilfe schaffen, notfalls könnte sogar das Militär einspringen. Doch auf die Schnelle bringt das alles wenig.

Scholz verweist auf Brexit

Die Krise drückt den Briten so sehr aufs Gemüt, dass in Deutschland sogar Olaf Scholz am Montag nach der Bundestagswahl von britischen Journalisten in Berlin dazu befragt wurde. Auch der SPD-Kanzlerkandidat sieht einen Zusammenhang zum Brexit. "Wir haben sehr hart daran gearbeitet, die Briten davon zu überzeugen, die Union nicht zu verlassen. Am Ende haben sie sich anders entschieden", sagte Scholz auf die Frage, ob Deutschland mit Lastwagenfahrern aushelfen könne.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz antwortete auf die Frage eines britischen Journalisten.

Auch der ehemalige EU-Chefunterhändler in den Brexit-Gesprächen, Michel Barnier, sieht einen Zusammenhang zwischen der Benzin-Krise in Großbritannien und dem Austritt des Landes aus dem Europäischen Binnenmarkt. Darauf angesprochen, sagte der Franzose der BBC am Montagabend: "Unser wichtigstes Kapital ist der Binnenmarkt und elementarer Teil davon ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit." Großbritannien müsse nun den Konsequenzen des EU-Austritts ins Auge sehen. Es sei eine "unfassbare Entscheidung" gewesen, den Binnenmarkt zu verlassen, so Barnier weiter.

Johnson kündigt 5.000 Visa an

Nach langem und erbittertem Widerstand ließ sich die britische Regierung am Wochenende darauf ein, bis zu 5.000 Visa für ausländische Fahrer bereitzustellen. Boris Johnson "hat genug von den schlechten Schlagzeilen und will das geregelt haben", zitierte die "Financial Times" einen Insider kurz vor der Ankündigung. Allerdings sind die Visa zeitlich klar auf die Monate bis Weihnachten befristet. Daher ist nun die große Frage: Kommt überhaupt jemand?

Da auch in etlichen europäischen Ländern, darunter Deutschland, ein Mangel an Fahrern besteht, müssen britische Firmen viel bieten, um überhaupt ein attraktiver Arbeitgeber für wenige Monate zu sein. Ein Vertreter der Federation of Dutch Trade Unions, die Lastwagenfahrer aus ganz Europa vertritt, sagte die BBC am Montag: "Die Arbeitskräfte aus der EU, mit denen wir sprechen, werden nicht für kurzfristige Visa zurückkehren, um Großbritannien aus dem Mist zu helfen, den es selbst gebaut hat."

Suche nach Lösungen

Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng will über die Visa hinaus Wettbewerbsregeln außer Kraft setzen, damit die Branche gemeinsam gegen die Engpässe vorgehen und eine Grundversorgung an Benzin und Diesel organisieren kann. Das könnte zumindest den akuten Notstand an der Zapfsäule beheben, ist aber auch keine Lösung für andere Branchen. Dabei sind es fast alle, die dringend auf die Lkw-Fahrer angewiesen sind: Supermärkte können ohne sie ihre Regale nicht füllen, Spielzeughersteller fürchten um das Weihnachtsgeschäft, und einigen Pub-Ketten geht das Bier aus. "Alles, was wir in Großbritannien haben, kommt auf der Ladefläche eines Lkws zu uns", betonte Rod McKenzie von der Road Haulage Association.

Dass Soldaten die Tanklaster bald durch britische Straßen steuern könnten, wird im Londoner Regierungsviertel zwar diskutiert, aber bisher noch nicht umgesetzt. Das Militär sei auch "kein Allheilmittel", sagte Brian Madderson von der Petrol Retailers Association in einem BBC-Interview. Es gehe nicht nur darum, die Tanklaster zu fahren, sondern auch darum, diese zu befüllen – und dies sei keine einfache Aufgabe, sondern eine Tätigkeit, die man lernen müsse.

Nach Angaben des Branchenverbands Petrol Retailers Association, der rund 5.500 unabhängige Tankstellen vertritt, haben derzeit zwei Drittel der Mitglieder keinen Kraftstoff mehr. Die Nachfrage habe am Wochenende um bis zu 500 Prozent höher gelegen, sagte Verbandschef Madderson. 50 bis 90 Prozent der Tankstellen seien leer, die anderen drohten bald auszutrocknen.

Regierung sieht keine Kraftstoffmangel

"Von der Logistik bis zum Gastgewerbe, von der Kultur bis zum Bausektor, fürchte ich, kann man nun sehen, wie die Regierung erntet, was sie mit einem harten Brexit gesät hat", sagte der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan von der Labour-Partei am Montag in Brighton. "Man kann nicht fünf Jahre lang über die EU und EU-Bürger herziehen und dann erwarten, dass sie zurückkommen und uns aushelfen."

Die konservative Regierung in London betonte zu Wochenbeginn erneut, es gebe keinen Mangel an Kraftstoff. Alle Bürger müssten nur damit aufhören, Panikkäufe zu tätigen, und sollten nur so viel tanken, wie sie bräuchten. Dann werde sich die Lage wieder beruhigen, hieß es aus der Downing Street. (APA, 28.9.2021)