Am Tag nach der Bundestagswahl sieht Thorsten Faas, Professor an der FU Berlin, alle Karten in Olaf Scholz' Hand. Klar gebe es Knackpunkte, am Ende wollten aber sowohl Grüne als auch die FDP regieren und aufeinander zugehen, sagte er dem STANDARD.

STANDARD: Olaf Scholz muss nun das Unmögliche möglich machen und, will er Kanzler werden, zwei so unterschiedliche Parteien wie Grüne und FDP an einen Tisch bringen. Ist der SPD-Wahlsieger ein geschickter Verhandler?

Faas: Unmöglich ist mit Blick auf Koalitionen in Deutschland gerade gar nichts, das zeigt ja ein Blick auf die Bundesländer, wo wir in 16 Ländern 14 verschiedene Konstellationen haben, darunter auch in Rheinland-Pfalz eine Ampel, die just in diesem Jahr sogar im Amt bestätigt worden ist. Aber klar ist auch: Das ist gerade eine spannende Situation auf Bundesebene, für die es keine Vorlagen gibt.

STANDARD: Ist Scholz tatsächlich die Fortsetzung von Angela Merkel mit anderen Mitteln, als die er im Wahlkampf für sich geworben hat?

Faas: Das war schon ein sehr erfolgreicher Versuch, die "Merkel-Wählerinnen und -Wähler" aus dem Reigen der Unionswählerschaft herauszulösen – und das scheint ja auch geklappt zu haben. Scholz war am ehesten der Amtsinhaber, und dass Laschet plötzlich der Herausforderer war, hat ihn und die Union vor erhebliche Herausforderungen gestellt.

In der gestrigen TV-Debatte nach der Wahl wurden erste Pflöcke eingeschlagen. Sowohl Olaf Scholz als auch Armin Laschet beanspruchten das Kanzleramt für sich.
Foto: EPA/MICHELE TANTUSSI

STANDARD: SPD und FDP trennen, was ihr Programm angeht, Welten. Welche Zugeständnisse könnten die Genossen machen?

Faas: Ach, Politik ist ja ein vieldimensionaler Raum: Außenpolitik, Innenpolitik, Gesellschaftspolitik. Solange da keine knallharten roten Linien gezogen werden, sind das ja alles Profis, die Kompromisse finden werden einschließlich symbolischer Erfolge für alle Beteiligten.

STANDARD: Und was sind die möglichen Knackpunkte, wo kann die SPD also keine Kompromisse machen?

Faas: Mindestlohn, Schuldenbremse, Steuern – das sind die Knackpunkte. Zugleich sind das aber auch ökonomische Fragen, bei denen es viele Stellschrauben gibt.

STANDARD: Muss FDP-Chef Christian Lindner nun womöglich doch noch "falsch regieren", oder kann er ein zweites Mal eine Koalition platzen lassen?

Faas: Er hat ja sein Schicksal als Vorsitzender an eine Regierungsbeteiligung geknüpft, insofern muss er jetzt liefern. Das weiß er – noch dazu ist ja seine Position mit zwei Optionen sogar noch besser als 2017 (als die FDP letztlich erfolglos mit Union und Grünen verhandelte, Anm.).

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STANDARD: Und wie sehr wollen die Grünen regieren? Können sie dafür auf die FDP zugehen, etwa beim Thema Klimaschutz?

Faas: Auch die wollen regieren, ganz klar, das hat man ja gestern gemerkt. Und beim Klimaschutz ist es doch so, dass sich alle im Ziel einig sind. Und dann kann man auf der Maßnahmenebene ein breites Paket vereinbaren, in dem für alle was drin ist. Entscheidend wird sein, wo der politische Wille liegt – und was natürlich mit der Union passiert.

STANDARD: Ist es für Scholz Fluch oder Segen, dass sich Rot-Rot-Grün nun schon mathematisch nicht machen lässt?

Faas: Eine knappe Mehrheit wäre verhandlungstaktisch sehr nützlich gewesen. Die hätte er zwar niemals gezogen, und doch wäre sie immer im Raum gestanden. Jetzt ist er in einer ähnlichen Situation wie die SPD in früheren Jahren: Ampel oder große Koalition – beides nichts, was Sozialdemokraten in Ekstase versetzt. So wie man insgesamt sagen muss, dass das Koalitionsthema ein zähes Thema wird.

STANDARD: Warum wurde es am Ende doch noch so spannend zwischen SPD und Union?

Faas: Ach, das ist ja auch gerade erst einmal ein Deutungskampf: Ist das nun knapp oder doch nicht? Der Abstand ist ja da. Armin Laschet und der Union ist es am Ende doch noch gelungen, die eigenen Reihen zu stabilisieren und damit eine weitere Abwanderung zu verhindern.

STANDARD: Wie erklärt sich die Niederlage der CDU nach 16 Jahren Merkel, die ja beim Volk bis heute recht beliebt ist und die für Laschet geworben hatte?

Faas: Das ist genau das Problem: Es war alles auf Kontinuität hin ausgerichtet, aber Laschet entpuppte sich nicht als die neue Merkel. Und dann war sowohl personell und thematisch wenig da, mit dem man im Wahlkampf punkten konnte.

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Der Wahlkampf mag vorbei sein, der Kampf um die Macht hat gerade erst begonnen.
Foto: REUTERS/Wolfgang Rattay/File Photo

STANDARD: Die SPD hat mehr als 200.000 sonstige Grün-Wähler auf ihre Seite ziehen können, wie erklärt sich das?

Faas: Die Wählerpotenziale von Rot und Grün überlappen sich in weiten Teilen, und sie orientieren sich dann am Ende häufig hin zu der Partei, die aussichtsreicher dasteht. Das war – zumindest am Ende – die SPD.

STANDARD: Abschließend: Wie hoch schätzen Sie die Chancen ein, dass doch Armin Laschet am Ende noch Kanzler wird?

Faas: Laschet hat Nehmer- und Steherqualitäten, und die braucht er jetzt mehr denn je. Aber ich habe trotzdem Zweifel, ob er es auch dieses Mal am Ende schaffen wird. (Florian Niederndorfer, 27.9.2021)

DER STANDARD