Zwischen Verzweiflung und Rachegelüsten: Constanze Passin als starke Hauptfigur Katja Sekerci in "Aus dem Nichts" im Werk X Wien.

Foto: Alex Gotter

Was der NSU-Komplex und die damit assoziierten legendären Ermittlungsfehler über latenten Rassismus und dysfunktionale oder infiltrierte Sicherheitsapparate in Deutschland offenbart haben, davon erzählte 2017 preisgekrönt (aber nicht unkritisiert) Fatih Akins unter anderem für einen Oscar nominierter Spielfilm Aus dem Nichts. Diane Kruger spielte darin die (bemerkenswerterweise biodeutsche) Hauptfigur Katja Sekerci, die bei einem Bombenanschlag ihren kurdischstämmigen Mann sowie den gemeinsamen Sohn verliert.

Die tendenziösen, stur in eine Richtung abzielenden Ermittlungen erinnern überdeutlich an den NSU-Fall, auch hier wird schließlich ein Nazi-Paar der Tat überführt, jedoch – im Zweifel für den Angeklagten – nicht verurteilt, woraufhin die verzweifelte Katja zur Selbstjustiz schreitet.

Ali M. Abdullah bringt das – wohl nicht ohne Zufall am Wochenende der deutschen Bundestagswahl – im Werk X mit einem tollen Ensemble (Zeynep Alan, Okan Cömert, Sebastian Klein, Peter Pertusini, Sebastian Thiers und eine starke Constanze Passin in der Hauptrolle) auf die von Renato Utz mit einem detailgetreuen Explosionstatort im Glaskasten eindrucksvoll ausgestattete Bühne. Und Abdullah tut gut daran, sich nicht einzig auf Akins Filmvorlage zu verlassen. Die Spielszenen, die einen Teil des Abends ausmachen und irgendwo zwischen Gerichtskrimi, Rache- und Melodrama angelegt sind, erinnern bisweilen frappierend an einen durchschnittlichen Tatort, und schrammen oft genug haarscharf am Betroffenheitskitsch vorbei.

Unterdrückte Emotionen

Abdullah und sein Ensemble finden aber eine Bühnensprache, die verfängt. Zum einen bringen sie die Handlung in Bewegung: Schon während des Einlasses tanzt das Ensemble zum Hit Disco Pogo des deutschen Hip-Hop-Duos Die Atzen und spricht danach schnaufend die ersten Zeilen, und auch die (stark gespielten) Gerichtsszenen werden immer wieder von in Stroboskoplicht getauchten Blacks unterbrochen, in denen die Figuren wild tanzen. Ein Sinnbild für die Emotionen, die vor Gericht unterdrückt werden müssen. Vor allem aber lässt Abdullah das Ensemble in mehreren, am hinteren Bühnenrand von einer Kamera aufgezeichneten und auf Leinwand übertragenen Einschüben aus ihren Rollen treten und diskutieren.

Über den NSU-Komplex – und den eigenen Rassismus, über Aufklärung, Eurozentrismus, Kolonialismus. Bisweilen wird auch lebhaft auf Türkisch debattiert. Damit die deutsche Perspektive nicht allzu sehr überhandnimmt (ein guter Teil der Spielerinnen und Spieler stammt – deutlich hörbar – aus Deutschland), bringt Peter Pertusini immer wieder auch die österreichische Seite ein. Ist ja nicht so, dass es in Österreich keine Nazis gäbe.

Manchmal gerät das etwas sehr akademisch – was aber nichts daran ändert, dass Abdullah und seinem Ensemble ein leidenschaftlicher, starker, sehenswerter Abend gelungen ist. (Andrea Heinz, 27.9.2021)