Politikwissenschafter Leonard Novy schreibt in seinem Gastkommentar über die Fehler der CDU bei der vergangenen Wahl und warum sie so drastisch verloren hat.

Der Union, Deutschlands "natürlicher Regierungspartei", ist das Sieger-Gen abhandengekommen. Dass ihr Spitzenkandidat am Wahlabend aus dem schlechtesten Abschneiden ihrer Geschichte statt eines Rücktrittsgrunds einen Regierungsauftrag abzuleiten versuchte, war mehr als eine Verzweiflungstat zur Rettung der eigenen Karriere. Es kommt einer politischen Phantomempfindung gleich.

Seine Partei ist mit ihm als Spitzenkandidat abgestürzt: Die Plakate haben Armin Laschet bei der Bundestagswahl nichts genützt – jetzt werden sie abmontiert.
Foto: Reuteres/Fabian Bimmer

In mehr als 50 der vergangenen 71 Jahre stellten CDU/CSU den Kanzler oder die Kanzlerin. Damit dürfte vorläufig Schluss sein. Es besteht die Möglichkeit, aber eben nicht das moralische Mandat und auch nicht das politische Kapital für eine unionsgeführte Jamaika-Regierung. Die Erkenntnis, dass ein solcher Anspruch angesichts des beispiellosen Absturzes der Partei Öffentlichkeit und Medien gegenüber nicht zu vermitteln sein werde, machte sich am Montag auch in Führungskreisen der Partei breit. Die Union, sie eint nicht einmal mehr der Willen zur Macht.

Das Versagen der Union in den letzten Monaten ist vollumfänglich, die Ursachen dafür vielfältig. Sachpolitisch hing die Latte bei den Christdemokraten, anders als bei den in ihren Programmdebatten um Spiegelstriche ringenden Grünen oder der SPD, stets tief. Nur dass ihr das in der Vergangenheit nicht zum Nachteil gereichte. Im Gegenteil. "Keine Experimente", so lautete die bewährte Maxime der CDU – nicht nur der Österreicher blickt eben voller Zuversicht in die Vergangenheit. Und für diese Auslegung des Konservatismus stand in der ihr eigenen Art auch Angela Merkel.

Enormes Kräftefeld

Das enorme Kräftefeld, das – zu ihrem Amtsantritt 2005 von niemandem vorhergesehen – bald um sie entstanden ist, ergab sich nicht zuletzt aus dem Wechselverhältnis von gesellschaftlichen Stimmungen und einer darauf abgestimmten, im Grunde bis heute verfangenden Inszenierung von Führung: Sachorientiert, schnörkellos, zuverlässig und bald beinah über den Parteien schwebend navigierte sie das Land durch die Krisen des frühen 21. Jahrhunderts. Schon qua Amtsdauer bediente sie den menschlichen Status-quo-Bias, also die Tendenz, das "Jetzt" gegenüber Veränderungen zu bevorzugen.

Dass das Merkel’sche "more of the same" letztlich gerade in zentralen Zukunftsfragen auf nichts anderes hinauslief als auf "Muddling Through", auf Passivität und Verantwortungsverflüchtigung, dass damit gesamtgesellschaftlich wie für jeden Einzelnen negative Folgen verbunden waren, weil wichtige Weichenstellungen verschlafen wurden, die schon in naher Zukunft zu einer Verschlechterung der Zustände führen können, fiel unter dem Tisch – und Armin Laschet nun mit voller Wucht auf die Füße.

"Die meisten Wählerinnen und Wähler hatten eben kein klares Bild von ihm. Und je mehr sie ihn kennenlernten, desto weniger mochten sie, was sie sahen."

Denn je näher der Abgang der Kanzlerin, die sich, auch als sie noch Parteivorsitzende war, kaum je für ihre Partei interessierte, rückte, desto evidenter wurde das programmatische und strategische Vakuum, das sie hinterlassen würde.

So vermochte es Laschet bis zum Ende dieses langen Wahlkampfes nicht zu erklären, wohin er das Land zu führen gedenkt und wofür er eigentlich steht. Merkel konnte die Frage danach, wofür sie eigentlich steht, von 2013 an mit einem lapidaren "Sie kennen mich" beantworten. Für den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten galt das nicht.

Die meisten Wählerinnen und Wähler hatten eben kein klares Bild von ihm. Und je mehr sie ihn kennenlernten, desto weniger mochten sie, was sie sahen. So mäanderte Laschet ohne Strategie, Plan und Botschaft durch einen Wahlkampf, von dem er eigentlich gedacht hatte, er habe ihn in dem Moment gewonnen, als er seinen bayrischen Rivalen Markus Söder aus dem Weg geräumt hatte.

Das Wahlergebnis der CDU ist aber nicht nur dem Versagen eines Mannes geschuldet, der nicht verstanden hat, dass die Bundesrepublik keine Erbmonarchie ist. Die Kampagne der Union, der politische Beobachter anfangs noch strategisches Kalkül unterstellten ("Schlafwagenwahlkampf"), sie war das Ergebnis einer kollektiven Selbsttäuschung, deren Anmaßung immer deutlicher zutage trat, je länger der Wahlkampf dauerte und je näher Merkels Abschied rückte.

Lachender Dritter

Das ist auch der Verdienst der Grünen um Spitzenkandidatin Annalena Baerbock, die ihre Chancen aufs Kanzleramt früh verspielten, deren forsches Auftreten aber doch den diskursiven Rahmen für diesen Wahlkampf setzen sollte.

Der Stillstand, für den Merkel stand, ist passé, das ist die zweite große Lektion aus dieser Wahl. Profitieren sollte davon am Ende, als lachender Dritter, ausgerechnet die zwölf der vergangenen 16 Jahre mitregierende, leidgeprüfte und totgeglaubte Sozialdemokratie, der es auf Basis einer soliden Regierungsbilanz gelang, sich als ausgleichende Kraft zwischen Stabilität und der notwendigen Veränderung zu präsentieren: "Weiter so. Aber anders."

Währenddessen irrlichterte Laschet als eine Art wandelnde kognitive Dissonanz weiter durch seine Auftritte, inszenierte sich mal als legitimer Erbe Angela Merkels, mal als ihr größter Kritiker, mal als Bewahrer des Status quo, mal als Erneuerer ("Modernisierungsjahrzehnt"). Nichts verfing. Zuletzt musste dann wieder das Schreckgespenst Rot-Rot-Grün aus der politischen Mottenkiste geholt werden. Eine trostlose Veranstaltung.

Sobald Grüne und FDP, die nun zunächst zu zweit über ein Zusammengehen in einer Koalition sondieren wollen, ihre zentrale Rolle in diesem Spiel öffentlichkeitswirksam ausgekostet haben, dürften sie den Ball ins Spielfeld von Olaf Scholz legen. Der ist nicht dafür bekannt, sich zu verdribbeln. (Leonard Novy, 28.9.2021)


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DER STANDARD