Niemand kann heute sagen, was das Endergebnis der bevorstehenden Verhandlungen über eine Dreiparteienkoalition in Deutschland sein wird. Eines steht aber fest: Die Ära der politischen Stabilität geht mit den Bundestagswahlen unwiderruflich zu Ende. Obwohl in der Wahlkampagne die Außenpolitik kaum zur Sprache kam, wird das Ende der Ära Merkel in der Europäischen Union und darüber hinaus in der Weltpolitik spürbare Folgen haben.

Wie der deutsche Historiker Herfried Müller treffend festgestellt hat, die Zeit Angela Merkels sei die letzte Ära der Kanzlerdemokratie gewesen und ihrem Regierungsstil würden manche noch nachtrauern. Drei Merkel-Biografien sind auf der Spiegel-Bestsellerliste und nicht nur deutsche Zeitungen haben über die Chronik der 16 Merkel-Jahre lange Abhandlungen gedruckt, sondern auch bedeutende ausländische Publikationen, wie etwa die Londoner Economist Beilagen über "Deutschland nach Merkel" veröffentlicht.

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Das Reichstagsgebäude in Berlin.
Foto: AP/Michael Probst

Kein künftiger deutscher Kanzler, weder Olaf Scholz noch Armin Laschet, kann jene Rolle des Krisenmanagers übernehmen, die die deutsche Bundeskanzlerin immer wieder in kritischen Situationen so souverän gespielt hat. Eine Koalition aus drei selbstständigen und auch von inneren Richtungskämpfen betroffenen Parteien mag die innenpolitische Debatten und damit die demokratischen Entscheidungsprozesse neu beleben, doch zugleich wird sie unweigerlich das politische Gewicht Deutschlands in der EU verringern. Die Kanzlerin war im Gegensatz zu den ständig wechselnden Vertretern der 27 anderen Mitgliedsstaaten (mit der Ausnahme Ungarns und der Niederlande) ein Symbol der Kontinuität im EU-Rat der Staats- und Regierungschefs.

"Lahme Ente"

Es ist zu befürchten, dass die Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung Monate dauern könnten. Im Gegensatz zur Bildung der großen Koalition zwischen CDU-CSU und SPD vor vier Jahren kann Präsident Frank-Walter Steinmeier kaum eine entscheidende Rolle spielen. Der Sozialdemokrat kündigte überraschend bereits am 28. Mai 2021 seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit an. Er könnte nur im Falle eines CDU-Kanzlers überhaupt eine Chance haben!

Je länger die Koalitionsverhandlungen anhalten, umso weniger kann eine als "lahme Ente" betrachtete geschäftsführende Regierungschefin Merkel die deutschen Interessen in Brüssel vertreten. Ohne eine entscheidungsfähige Regierung in Berlin wird der französische Staatspräsident Emmanuel Macron trotz (oder gerade wegen) seines Kampfes um die Präsidentschaft die erste Geige in der EU spielen, möglicherweise in Zusammenarbeit mit dem erfolgreichen italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi.

Ob die noch von Merkel favorisierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, ohne Rückendeckung aus Berlin, ihre großangelegten Zukunftspläne überhaupt in Angriff nehmen kann, muss ebenso offenbleiben wie die Realisierung der wiederholt angekündigten Disziplinierungsmaßnahmen gegen Polen und Ungarn. Mit den schweren Stimmenverlusten der CDU-CSU werden die Defizite der langen Ära Merkel auch immer schärfer beleuchtet werden.

Es stehen in Deutschland spannende Zeiten bevor. (Paul Lendvai, 28.9.2021)