Dieser Text ist im Rahmen des RONDO exklusiv-Schwerpunkts über "die Lust an der Maßlosigkeit" erschienen.
Bild: Kate Pincus-Whitney, Photography by Cary Whittier, Courtesy of the Artist and Fredericks & Freiser, NY

"Kannst du dich noch erinnern? Als uns die Kieberer verhaften wollten?" R. grinst über das ganze Gesicht. Wir sitzen nach dem gefühlt zehnten Lockdown und wahrscheinlich mehr als einem Jahr das erste Mal wieder zusammen beim vielleicht dritten Bier und wärmen die alten Geschichten und vermeintlichen Heldentaten wieder auf. "War das geil. Waren wir fett."

Oder damals, die Schlägerei nach dem Punkkonzert? … P. kommt zu spät zu unserem Treffen: "Musste noch mal umdrehen, Maske vergessen", sagt er entschuldigend. Da ist sie wieder, die Pandemie, die alte Spaßbremse: "Fuck Corona", schallt es P. entgegen. Wir erheben unsere Humpen, es gibt viel nachzuholen. "Das waren noch Zeiten", versucht R. den Faden wieder aufzunehmen. "Weißt du noch …?"

Das Laster gehört zum Menschsein, die Ausschweifung ist das Ventil, das noch niemand nachhaltig verschließen konnte.
Foto: Gettyimages/ wundervisuals

Hier hocken wir also, wir mittelalten weißen Familienväter, und trauern einer Zeit nach, die unwiederbringlich futsch ist. Die Jahre des rauschhaften Herumexperimentierens, als man seine Laster und Gelüste noch ausleben konnte, als man dachte, man würde sowieso ewig leben. Saufend, rauchend, kopulierend. "Verschwende deine Jugend!", murmle ich in mein Krügerl. Nichts und niemand hätte uns damals davon abbringen können, weil es genau das war, was wir wollten. Insgeheim noch immer wollen. Gerade jetzt.

Fest des Lebens

Trink keinen Alkohol, iss kein Fleisch, mach Sport, hör mit dem Rauchen auf, halte dich an die Regeln, flüstert die Vernunft. Kannst du dir sonst wo hinstecken, schreit die Gier ihr ins Gesicht. Das Fest des Lebens kann nicht warten! Das Laster gehört zum Menschsein, die Ausschweifung ist das Ventil, das noch niemand nachhaltig verschließen konnte.

Rauschzustände sucht der Mensch, seit es ihn gibt. Es steckt, möchte man sagen, in unseren Genen. Längst ist erwiesen, dass unsere Spezies schon früh einen besonderen Ehrgeiz dabei an den Tag legte, Alkohol bewusst und systematisch herzustellen.

"Einige Archäologinnen und Anthropologen glauben gar, dass es seine Liebe zum Bier war, die den Menschen vor rund 12.000 Jahren im südlichen Mesopotamien in die Sesshaftigkeit trieb", schreibt die Schweizer Journalistin Olivia Kühni in ihrem Beitrag zu dem Buch "Positiv. Aids in der Schweiz". Ausgerechnet. Sie beschreibt, dass selbst HIV Menschen nicht vom Vögeln abhält, und widmet sich überhaupt dem Thema Laster.

Sie zieht die steile These heran, die Menschheit habe damit begonnen, Weizenfelder zu bestellen, um sich effizienter zu betrinken. Sesshaftigkeit und Saufen sind demnach kommunizierende Gefäße. Der Historiker Yuval Noah Harari geht sogar so weit zu behaupten, dass man eigentlich nicht feststellen sollte, der Mensch habe den Weizen domestiziert, sondern vielmehr der Weizen den Menschen.

Motorengeräusche der Zivilisation

"Exzess, Sex und Risiko sind nicht nur Nebengeräusche der Zivilisation. Sie sind ihr Motor", legt Olivia Kühni dar. Es ist nicht die Vernunft, die den Menschen zivilisierte und ihn zum bestorganisierten, erfolgreichsten Tier auf Erden machte. Nein, gerade sein Hang zu gemeinsamem Exzess und Fieberträumen.

Auf das Individuum bezogen stellte der französische Psychiater und Psychoanalytiker Jacques Lacan den Imperativ Sigmund Freuds, "Wo Es war, soll Ich werden", auf den Kopf: "Wo Ich war, soll Es werden." An die Stelle aufgeklärter Selbstbestimmung setzt er ein unstillbares Begehren, das er als Grundsignatur alles Menschlichen entschlüsselt.

Mit organisierten Trinkfesten, Partys und mehrtägigen Raves sichert man nicht zuletzt gesellschaftlichen Frieden, möglicherweise politische Allianzen.
Foto: Cary Whittier Courtesy of the Artist and Fredericks & Freiser, NY

Um dieses Begehren zu befriedigen, möchten wir alle einmal ausschweifen, sehnen uns nach zeitweiliger Aufhebung aller Routinen. "Menschen haben ein unstillbares Verlangen, etwas Außeralltägliches am eigenen Leib zu erfahren", schreibt Franz Josef Wetz in seinem Buch "Exzesse". Nicht zuletzt lebt eine ganze Industrie davon, jene umhegten Freiräume zu bespielen, die diese Erfahrungen ermöglichen – alles selbstverständlich im sozial verträglichen Rahmen.

Selbst wenn sich nicht jede und jeder zu jeder Zeit ekstatischer Grenzenlosigkeit verschreiben möchte, so stecke doch in fast allen der Wunsch, hin und wieder aus dem geordneten Alltag auszubrechen, stellt der Philosoph und Ethiker fest. Das sei unwiderstehlich, nicht zu zügeln: Was man nicht bändigen kann, muss man feiern!

Erzählungen und Rituale

Mit organisierten Trinkfesten, Partys und mehrtägigen Raves sichert man nicht zuletzt gesellschaftlichen Frieden, möglicherweise politische Allianzen. Das Zusammenleben braucht gemeinsame Erzählungen und Rituale – immer wieder wird in der Literatur auf dionysische Orgien mit Trommelmusik, Opfergaben, Rauschmitteln und Sex hingewiesen. Mehr oder weniger kuratierte Feierlichkeiten, die Götter und Göttinnen gnädig und die Mitmenschen friedlich stimmen sollten. Oder, wie Wetz es so prägnant wie treffend formuliert: "Wer tanzt, tötet nicht."

Rauschzustände und ekstatische Grenzenlosigkeit sucht der Mensch, seit es ihn gibt. Die Ausschweifung ist ein Ventil, das noch niemand nachhaltig verschließen konnte. Oder sollte.
Bild: Kate Pincus-Whitney, Photography by Ludger Paffrath, Courtesy GNYP Gallery and the Artist

Die Belohnung ist ebenfalls in uns angelegt. In Form von Dopamin. Unser Gehirn schüttet diesen Botenstoff beim Feiern und Tanzen aus – oder wenn wir verliebt sind. Damit lässt sich auch erklären, warum der Mensch eben all die Verrücktheiten tut, die er manchmal tut. "Darum sind wir alle genetisch und neurologisch tendenziell zu Abenteuerlust, Spielfreude und Neugier veranlagt", stellt Olivia Kühni fest. Wenn auch nicht alle gleichermaßen.

Dopamin macht, dass wir wollen, dass etwas passiert. "Dopamin lässt uns mit weit offenen Augen und klopfendem Herzen darauf warten, was als Nächstes kommt – selbst dann, wenn wir wissen, dass wir eigentlich wegrennen sollten."

Orgiastische Feiern

Ein Preis der oben angesprochenen Sesshaftigkeit waren Seuchen. Welch Ironie auch in Anbetracht der Lage, in der wir uns gerade befinden. Aber selbst angesichts solcher historischer Katastrophen wie der Pest wüteten nicht nur panische Angst und Verzweiflung, wie Chronisten berichten. Es fanden auch orgiastische Feiern statt. Wetz: "Noch einmal erfasste ihr Leben, das dem Untergang geweiht war, eine aufschäumende Welle der Begeisterung. Wozu das Leben ernst nehmen, wenn da sowieso niemand heil rauskommt?"

"A scho wuascht", könnte man das auf gut Österreichisch zusammenfassen. Auf solch rohen Festen kam die Kehrseite der Vernunft zum Durchbruch, Tabus, Gesetze, das Korsett des Anstands wurden zerbrochen angesichts des sicheren Todes. Nun, ganz so extrem geht es während der aktuellen Pandemie nicht zu.

Corona hält zwar die Menschen nicht vom Feiern ab, aber die herbeigesehnte große Party nach all dem Wahnsinn scheint zumindest auf unbestimmte Zeit vertagt: Die Roaring Twenties des neuen Jahrtausends, die manche in Anlehnung an die wilden 1920er-Jahre schon herbeifantasierten, fanden bis dato nicht statt.

Corona und seine Varianten, steigende Inzidenzen, eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft verderben uns seit beinahe zwei Jahren das Freudenfest. Bleibt nur zu hoffen, dass irgendwann einmal unsere Kinder beim Bier beisammensitzen und einander ihre alten Heldengeschichten über Selbstentgrenzung und Exzess erzählen. "Weißt du noch, damals, in den 20er-Jahren?" (Markus Böhm, RONDO exklusiv, 1.10.2021)