Er gehört zu den großen, wichtigen Läufen. Der Marathon in Berlin. Am Sonntag, dem deutschen Wahltag, rannten 25.000 durch die Hauptstadt. Sie lieferten sich und der Welt ein wunderschönes, richtig großes Marathonfest, feierten mit hunderttausenden Zusehern und einigen hundert Bands an einer superschnellen Traumstrecke.

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Berlin ist einer der "Big Six". Also einer der sechs größten, sechs wichtigsten Marathons der Welt. Kann es an einem solchen Tag noch einen anderen Lauf geben? Also: einen Lauf, über den zu reden, zu schreiben sich lohnt?

Erst recht, wenn er mit 250 Läuferinnen und Läufern gerade einmal ein Prozent von Berlin schafft? Noch dazu auf der Prater Hauptallee, der abgedroschensten, unoriginellsten Strecke Wiens?

Ist so was nicht absolut irrelevant? Schon normalerweise keine Geschichte – aber am Berlin-Wochenende gleich doppelt wurscht?

Foto: Barbara Strolz

Natürlich sind Berlin, New York, Boston oder Setzen-Sie-hier-eine-Metropole-Ihrer-Wahl-ein-Stadt ein Hammer. Natürlich sind Bilder von dramatischen Trails, exotischen Orten oder sonst wie grandiosen Events toll.

Nur: Ohne "Alfreds Lauf" gäbe es das nicht. Dann wäre dort nämlich niemand. Um den geht es heute.

Ohne "Alfreds Lauf" wüsste kaum jemand, wie schön, wie vielfältig, wie aufregend und wie immer anders Wettkampflaufen sein kann.

Kaum jemand wüsste, wie es klingt, riecht und schmeckt, wenn sich eine Renn-Adrenalin-Wolke über einen Startblock legt, oder wie es ist, gleichzeitig Vollgas zu geben und die Handbremse anzuziehen, um nur ja nicht zu verbrennen. Aber vor allem: Was das Wort "Finisher", was noch die billigste Spritzgussmedaille bedeuten kann. Egal auf welchem Platz.

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"Alfreds Lauf" ist das Fundament. Die Basis.

Es geht um (wenn es hoch kommt) 250 Personen, die vergangenen Sonntag auf der Prater Hauptallee liefen – genauso wie hunderte, tausende andere Läuferinnen und Läufer auch. In Wien, in Österreich, in Europa – überall auf der Welt: "Alfreds Lauf" ist nur ein Beispiel. Ein sympathisches, schönes und wichtiges – aber trotzdem auch austauschbares Beispiel: Der jährliche Lauf des Alfred Sungi im Prater steht hier exemplarisch für jene abertausenden kleinen Laufveranstaltungen, ohne die es das, wofür Berlin, wofür Marathon, wofür die "Big Six" oder andere Laufträume stehen, nicht gäbe.

Für Events, die angeblich "unwichtig" sind. Oder, wie man in meiner Welt sagt, "keine Geschichte".

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In der Wiener Laufcommunity ist "Alfreds Lauf" weltberühmt. Nicht zuletzt wegen seines Gründers und Veranstalters: Alfred Sungi. Der gehört – salopp und respektlos formuliert – zum Wiener Laufinventar.

Es gibt wohl kaum einen Läufer oder eine Läuferin, die dem heute 52-jährigen Wiener mit tansanischen Wurzeln auf der Hauptallee noch nicht begegnet wären. Sungi ist Lauftrainer-Urgestein. Er ist seit Jahren hier mit Gruppen und Privatkunden unterwegs. Schnell, langsam, superschnell – oder fast gehend. Sungi weiß und vermittelt: Laufen ist immer und für jeden das, was sich danach anfühlt.

Aber auch wenn Sungi den Fokus keine Sekunde von seinen "Schäfchen" schweifen lässt, hat er immer noch ein Lachen oder einen Gruß für all jene parat, die ihm entgegenkommen.

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So bekannt Sungis Gesicht auf dem "Strip" der Prater Hauptallee ist, so wenig bekannt ist seine Geschichte. Dass er einst eine Tischlerlehre machte, neben dem Laufen auch auf Fast-Profiniveau kickte und in Österreich zunächst eine Krankenpflegerausbildung begann, bevor er mit dem Laufen Geld zu verdienen begann und eine Trainerausbildung machte, weiß kaum jemand. Ebenso nicht, dass Sungi auch Sprachlehrer ist – und Suaheli an Volkshochschulen unterrichtet.

Wobei das für Menschen, die laufen wollen, ja auch relativ egal ist. Für die zählt vermutlich mehr, dass Alfred Sungi über 60 Marathons und weit über 100 Halbmarathons in den Beinen hat – und eben dass es "Alfreds Lauf" gibt.

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Womit wir endgültig beim Thema wären: Den nach ihm selbst benannten Lauf veranstaltete der Sungi heuer zum achten Mal. Und auch wenn Set und Setup "professionellen" Ansprüchen genügten (Strecke und Zeitnehmung waren AIMS-zertifiziert, entsprachen also den Regeln der Association of International Marathons and Road Races), geht es Sungi vor allem darum, "die Freude am Laufen" greif-, spür- und erlebbar zu machen. Und das fängt bei den Kleinsten an, bei den Kindern.

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So beeindruckend es auch ist, bei den (angeblichen) Hauptläufen die Unterschiede zwischen Laufen auf meinem und echtem Leistungssportniveau vor Augen geführt zu bekommen, sind die schönsten und mitreißendsten Momente und Bilder für mich immer jene, wenn Kinder bei solchen Events laufen – wenn sie es wollen. Oder eben nicht laufen – weil sie grad keinen Bock darauf haben: Beides ist wichtig – und in jedem Fall richtig. Aber solange Eltern ohne Druck agieren, springt der Funke meist ohnehin von selbst über. Nicht zwingend zum Laufen – aber immer zum freudvollen Bewegen.

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Wieso ich das betone? Weil ich jedes Mal, wenn ich das Wort "Kinderlauf" lese, zunächst Horrorbilder von mit vor Ehrgeiz und Wut verzerrten Gesichtern verzweifelte Dreijährige hinter sich herzerrenden "Eltern" vor meinem geistigen Auge aufsteigen sehe. Die Bilder gab es. Doch so schlimm diese Momentaufnahme beim Linz-Marathon vor etlichen Jahren war, so heilsam war der Schock, den sie (allen voran beim betroffenen Veranstalter selbst) auslöste.

Wie das mit dem "laufen lassen" geht, haben aber die Eltern mittlerweile gelernt – hoffentlich. Und falls doch nicht, weiß ich, dass Veranstalter (aber auch Umstehende) einschreiten würden.

Foto: Barbara Strolz

Auch wenn bei solchen Kiddie-Runs natürlich alle Kinder Stars sind, hole ich hier doch eine junge Dame vor den Vorhang. Laura (mit Kappe) selbst war, als sie da mit ihrem besten Freund ihren allerersten Laufbewerb absolvierte, vollkommen egal, in wessen Laufschuhe sie da gerade stieg. Aber der Name ihres Großvaters ist in der Wiener Laufwelt halt doch ein Begriff: Tony Nagy.

Nagy eröffnete mit Tony's Laufshop 1983 den ersten Laufschuhladen Wiens, der diesen Namen auch verdiente. Nagy war nämlich der Erste, der nicht einfach irgendwelche Turnschuhe verkaufte, sondern tatsächlich passende Laufschuhe "verschrieb".

Foto: Barbara Strolz

Dass Nagy durchaus despotische Züge hatte und offen zu ihnen stand, tat seinem legendären Ruf keinen Abbruch. Im Gegenteil: Es sei "kein Gschichtl", dass er Kunden bei der Frage nach einer alternativen Schuhfarbe aus dem Laden werfe, bestätigte er mir mehr als einmal selbst. Heute ist das anders – nicht nur, weil es fast alle Schuhe längst in etlichen Farben gibt.

Tony ist heute 78 und bei guter Gesundheit, erzählte seine Tochter Michaela am Sonntag. Er läuft immer noch, hat die Zügel des Shops aber längst in Michaelas Hände gelegt.

Natürlich fragte ich, ob Laura das dynastische Prinzip wohl fortsetzen werde. Tony hätte da vermutlich "Selbstverständlich!" gerufen. Lauras Mutter lachte nur.

Gut so.

Foto: Barbara Strolz

Das mit den Fußstapfen ist aber so eine Sache: Alfred Sungis Tochter Sarah etwa hat die schnellen Beine von ihrem Vater geerbt. Beim Bahntraining im Dusikastadion (dort konnte man ja nicht nur Rad fahren) hielt sie Alfred schon vor vier Jahren ordentlich auf Trab.

Derzeit spielt sie aber lieber Tennis – doch wenn Alfred Sungi zu "Alfreds Lauf" lädt, ist sie trotzdem mit von der Partie: Sarah war am Sonntag unter anderem für die Ausgabe der Finishermedaillen zuständig.

Derlei ist wichtig: Ohne die Hilfe von Angehörigen, Freundinnen und Freunden, Vereinskolleginnen und -kollegen, Bekannten und Freiwilligen wären solche Veranstaltungen nicht möglich.

Foto: Tony's Laufshop

Das erklärt im Übrigen auch, wieso ich hier als Mikrohalter auftauche: Eigentlich wollte ich am Sonntag – verkühlungsbedingt zu einer Laufpause verurteilt – nur zuschauen und plaudern. Und danach allerhöchstens gemütlich heimtraben.

Sungi entschied anders: "Da ist das Mikro. Ich hab eh genug anderes zu tun. Mach nur."

Schon war er irgendwo anders: Er klärte etwas mit den Zeitnehmern, diskutierte mit den Polizisten oder anderen Amtsmenschen, schaute, ob genug Snacks in allen Finishersackerln waren, oder organisierte noch rasch – während das Rennen schon im Gange war – eine Labe für die 10k-Läuferinnen und -Läufer.

Foto: Barbara Strolz

Er war aber war trotzdem jedes Mal rechtzeitig wieder da, um präsent zu sein, wenn es zählte: etwa um ins Ziel Kommenden nicht nur zu gratulieren, sondern sie auch namentlich zu begrüßen – oft ohne auf Teilnehmerlisten oder den Namen unter der Nummer schauen zu müssen.

Dass das auch an der familiären Größe solcher Events liegt, stimmt natürlich.

Aber das ist nicht der Punkt: Anderswo, bei den "Großen", steht für derlei ein Heer an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bereit.

Foto: Barbara Strolz

Bei den Kleinen geht sich so was nicht aus. Reich wird von denen trotzdem keiner. Dass sich dann aber sogar Spenden für karitative Vereine (hier: "Dank dir") ausgehen, grenzt zwar an ein Wunder – überrascht mich aber nicht.

Weder bei diesem noch bei 10.000 anderen kleinen Läufen.

Denn dieses Businessmodell läuft mit Herzblut. (Tom Rottenberg, 28.9.2021)


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