Am 24. September jährte sich der freiwillige Tod der Sängerin Marie Wilt zum 130. Mal. Die Tagespresse überschlug sich damals mit Berichten über den tödlichen Sturz der 57-Jährigen aus dem Fenster im vierten Stock eines Hauses im Wiener Zwettlhof, dem Durchgang zwischen Stephansplatz und Wollzeile.

Carte de Visite von Marie Wilt.
Foto: Wienbibliothek im Rathaus

Unscheinbar, unorthodox und ungewöhnlich

Ihre Lebensgeschichte, ihr Äußeres und ihr Verhalten gaben schon zu Wilts Lebzeiten Anlass zu zahlreichen Anekdoten: die Sängerin mit der gigantischen Stimme, die erst im Alter von 31 Jahren ihr Bühnendebüt feierte. Die in Gesellschaft zuweilen unorthodox, weil unverblümt agierte. Deren Äußeres im Widerspruch zu ihrer faszinierenden Stimme zu stehen schien. Die sich mit ihrer praktischen, zupackenden Art nicht zu schade war, selbst niedrigste Hausarbeit zu übernehmen. Die ihre Finanzen in die Hand nahm und ihre Gagen selbst verhandelte. Die mit ihren psychischen Problemen zwischen Depression und Manie kämpfte, die höchstwahrscheinlich Mitursache ihres Suizids waren.

Kindheit bei einer Pflegefamilie

Ihre Mutter Juliane Liebenthaler entstammte einer alteingesessenen Fiakerdynastie aus Margarethen. Deren Großvater Jakob soll der Leibfiaker von Kaiser Josef II. gewesen sein. Sie selbst war als Handarbeiterin tätig und brachte am 30. Jänner 1834 in Nikolsdorf (heute Wien V) ihre zweite Tochter Maria Viktoria Liebenthaler auf die Welt. Der Vater ist im Taufbuch nicht genannt, die Mutter soll bald nach Maries Geburt an der Cholera verstorben sein. Das Mädchen wuchs daher bei einer Pflegefamilie auf, jener von Joseph Tremier und seiner Frau Franziska (Fanny), die aus der angesehenen Familie von Pratobevera stammte. Hier erhielt sie eine gutbürgerliche Erziehung inklusive des obligaten Klavierunterrichts, liebte die Musik und wollte Sängerin werden. Der renommierte Gesangslehrer Carl Kunt sprach ihr jedoch eine geeignete Gesangsstimme ab, und der Wunsch wurde vorerst begraben.

Ehefrau, Hausfrau und Mutter

So ging sie zunächst den üblichen Weg einer bürgerlichen jungen Frau und heiratete im Alter von 19 Jahren den um neun Jahre älteren Bauingenieur Franz Wilt in Steyr. Ein Jahr später wurde Tochter Franziska, genannt Fanny, geboren. Nachdem die junge Familie von einem längeren Dalmatien-Aufenthalt zurückgekehrt war, laborierte Marie Wilt an einer langwierigen Lungenkrankheit. Genesen, widmete sie sich wieder autodidaktisch dem Gesang, den sie nie aufgegeben hatte, und wurde Mitglied des Singvereins der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Dessen Leiter Johann Ritter von Herbeck erkannte ihr Talent und gab ihr die Solopartie der Jemina in der Uraufführung von Franz Schuberts Oratorium-Fragment "Lazarus" am 27. März 1863.

Wilt heiratete mit 19 Jahren.
Foto: Wienbibliothek im Rathaus

Konzertsängerin

Herbeck setzte Wilt danach regelmäßig als Solistin seiner sogenannten Gesellschaftskonzerte ein, und sie nutzte die Chance, sich als Konzertsängerin zu profilieren. Im April 1864 wirkte sie erstmals in einem Konzert der von Johannes Brahms geleiteten Wiener Singakademie mit. Nachdem ihr die Sängerin Désirée Artôt, mit der sie im April 1865 in zwei Konzerten gesungen hatte, eindringlich zu einer Bühnenkarriere geraten hatte, überwand die 31-Jährige ihre Bedenken, dafür eigentlich schon zu alt zu sein, und wagte den langersehnten Schritt auf die Bühne. Ihr Gesangsunterricht, den sie bei Josef Gänsbacher aufgenommen hatte, trug nun endlich Früchte.

Operndebüt in Graz

Vorbereitet vom Professor der Hof-Opernschule Carl Maria Wolf, mit dem sie in kurzer Zeit drei große Rollen einstudierte, fuhr sie nach Graz. Am 9. Dezember 1865 fand am dortigen Landestheater ihr "erster theatralischer Versuch", wie die Annonce verhieß, als Donna Anna in Mozarts "Don Juan" statt. Am 20. Dezember gab sie die Valentine in den "Hugenotten" von Meyerbeer und einen Tag später die Leonore in Beethovens "Fidelio". Dieser Kraftakt hinterließ seine Spuren, auch die Prosa im "Fidelio" und die darstellerischen Anforderungen bereiteten der Debütantin noch Schwierigkeiten, aber man erkannte bereits ihre außergewöhnliche Stimme.

Erste Auslandsgastspiele

Schon kurz danach trat sie ihre erste Gastspielreise an. Im März 1866 sang Wilt an der Berliner Oper unter den Linden, wo sie hoffte, ein Engagement zu erhalten. Sie musste ihren Aufenthalt jedoch nach zwei Auftritten infolge einer Kohlenmonoxid-Vergiftung abbrechen. Wiederhergestellt, gab sie im Mai am Covent Garden Theatre in London und im November im Teatro La Fenice in Venedig unter dem Namen Maria Vilda jeweils die Titelpartie in Bellinis "Norma".

Marie Wilt, vermutlich als Königin der Nacht.
Foto: Bildarchiv Austria / ÖNB

Operndebüt in Wien

Am 8. März 1867 trat sie erstmals in Wien als Opernsängerin in Verdis "Troubadour" vor das Publikum. Zwei weitere Auftritte als Donna Anna und Norma folgten im Laufe des März. Im April sang Wilt ein weiteres Mal in London. Parallel dazu verliefen Vertragsverhandlungen mit dem Wiener Hofoperntheater. Aufgrund ihrer anfangs noch geringen Repertoirekenntnisse erhielt sie zunächst nur einen sechsmonatigen Vertrag für 36 Gastrollen, der danach in ein fixes Engagement umgewandelt wurde, und begann am 25. September wieder mit "Norma". Zu Höhepunkten ihrer Karriere in Wien zählten die Donna Elvira in der Eröffnungsvorstellung der neuen Hofoper am 25. Mai 1869, sie war die erste Wiener Aida (29. April 1874) und kreierte am 10. März 1875 die Sulamith in der Uraufführung von Karl Goldmarks "Königin von Saba". Verschiedene Ehrungen bestätigten sie in ihrem Erfolg, etwa die Ernennung zur k. k. Kammersängerin 1869, zum Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 1871, später auch zum Ehrenmitglied des Budapester Nationaltheaters (1881) und der Wiener Hofoper (1883). Die Sängerin beschränkte sich jedoch nicht nur auf das Opernfach, sondern betätigte sich weiterhin auch mit großem Erfolg im Konzertsaal.

Erzwungener Abschied

Wilts Privatleben hingegen verlief weniger glücklich, ihre Ehe mit Franz Wilt zerbrach. Im Zuge ihres Aufenthalts in Russland soll die Sängerin einen Arzt kennengelernt haben, für den sie ihren Mann verlassen wollte. Dieser forderte von ihr daraufhin den Verzicht auf öffentliche Auftritte in Wien sowie die gerichtliche Hinterlegung von 119.000 Gulden. Wilt willigte ein und verließ im Frühjahr 1879 Heimatstadt und Mann. Ihre Tochter war mittlerweile bereits erwachsen, hatte im Herbst 1876 nach Graz geheiratet und war nunmehr ebenfalls Mutter einer Tochter.

Leipzig und La Mara

Wilt ging daraufhin ans Leipziger Stadttheater, kämpfte jedoch infolge ihrer privaten Probleme – aus der erhofften Beziehung mit dem Arzt wurde nichts – mit schweren Depressionen und Selbstmordgedanken und litt in der fremden Stadt unter Einsamkeit. Durch die Bekanntschaft mit der um drei Jahre jüngeren Leipzigerin Marie Lipsius, die zum engen Freundeskreis von Franz Liszt zählte und unter dem Pseudonym La Mara auch als bekannte Musikschriftstellerin tätig war, gewann die Sängerin wieder Zuversicht. Zwischen den beiden musikbegeisterten Frauen entwickelte sich eine intensive Freundschaft, und La Mara widmete Wilt 1882 sogar ein eigenes Kapitel in der fünfbändigen Porträtreihe "Musikalische Studienköpfe". In Leipzig erweiterte Wilt ihr Repertoire um die einschlägigen Wagner-Rollen und sang in der Saison 1878/79 allein 13-mal den gesamten "Ring des Nibelungen". Dazwischen gab Wilt auch gefeierte Gastspiele in Dresden. Der Plan, die kommende Saison parallel an beiden Opernhäusern zu singen, zerschlug sich jedoch, und sie kehrte zurück nach Wien.

Grab von Marie Wilt auf dem Wiener Zentralfriedhof.
Foto: Monika Kornberger

Die letzten Jahre

Ende 1879 unternahm sie mit der Pianistin Anetta Essipoff eine Konzertreise durch die Monarchie, zwischen 1880 und 1882 gab sie ausgedehnte Gastspiele am Pester Nationaltheater und am Frankfurter Stadttheater. Nachdem man sich mit ihrem Mann geeinigt hatte, kehrte Wilt Ende April 1882 als langersehnte Gästin an die Wiener Hofoper zurück. Ihre letzte Vorstellung dort gab sie am 18. Jänner 1886 als Lucrezia Borgia. Mit zwei Auftritten im November 1888 in Graz verabschiedete sie sich endgültig von der Opernbühne. Ihre letzten Lebensjahre wohnte sie dort häufig bei ihrer Tochter, wurde phasenweise für unzurechnungsfähig erklärt, verbrachte aufgrund ihrer psychischen Probleme auch einige Zeit in der "Landes-Irrenanstalt" Feldhof und zerstritt sich mit ihrer Familie.

Sie spendete große Summen an verschiedene Hilfsorganisationen, widmete der Universität Graz im November 1890 100.000 Gulden in Form einer Stiftung, wollte vorübergehend ihren Nachkommen überhaupt nichts hinterlassen, änderte mehrmals ihr Testament und bestellte ihre Tochter letztlich doch zu ihrer Alleinerbin. Vereinzelt trat Wilt noch als Konzertsängerin an die Öffentlichkeit, dürfte aber immer wieder mit Stimmbandproblemen gekämpft haben. Mitte Juli 1891 in Salzburg bewies sie bei ihrem letzten öffentlichen Auftritt eindrucksvoll, dass ihre Stimme nichts eingebüßt hatte, bezeichnenderweise mit der berühmten Koloraturarie der Konstanze, "Martern aller Arten". Zwei Monate später war sie tot. (Monika Kornberger, 30.9.2021)