"Ich habe nie etwas von einem Stalin gehalten, habe die Menschenrechtsverbrechen in kommunistischen Regimen schrecklich gefunden, den Einmarsch in der ČSSR auch, ich bin auch kein Fan Nordkoreas. Das ist Despotismus und hat nichts mit der Weltanschauung zu tun."

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STANDARD: Wie ist die Stimmung zwei Tage nach der Grazer Wahl? Ist überhaupt Zeit für den üblichen Parteienverkehr?

Kahr: Heute Vormittag haben wirklich die Kollegen für mich übernommen, weil ich habe gerade ein Gespräch mit dem Herrn Bürgermeister gehabt.

STANDARD: Mit Siegfried Nagl? Wurde da schon über mögliche Koalitionen geredet?

Kahr: Nein, ab morgen werden wir erste Gespräch mit allen führen. Heute muss ich mich einmal durch hunderttausende Mails arbeiten, ich hab noch gar nicht alle Glückwünsche beantworten können. Aber am Nachmittag habe ich tatsächlich schon wieder Parteienverkehr. Langsam schleicht sich wieder die Routine ein.

STANDARD: Wie konkret wird morgen schon geredet?

Kahr: Einfach darüber, wie wir in den nächsten Jahren arbeiten wollen. Es ist ja nicht so, dass ich mir denke "Holladrio, jetzt sind wir da, und alles wird anders", ich habe immer auch die anderen Parteien respektiert. Das wird so bleiben. Durch den Proporz müssen wir ja sowieso zusammenarbeiten.

STANDARD: Die ÖVP hat die KPÖ 2017, die damals zweitstärkste Kraft war, wegen des Kraftwerksbaus ausgebremst und Schwarz-Blau geschmiedet. Rachegefühle gibt es da keine?

Kahr: Das hat die ÖVP sogar schon 2012 gemacht. Aber ganz im Gegenteil, rachelustig, das war ich nie. Meine Mitstreiter wissen das auch. Ich kenne keine Häme. Ich hätte zum Beispiel dem Herrn Ehmann (Michael Ehmann, Chef der Grazer SPÖ) von Herzen einen Stadtsenatssitz gegönnt. Ich empfinde auch keine persönliche Häme gegen Bürgermeister Nagl, ich trenne immer das Menschliche vom Politischen.

STANDARD: Also werden Sie den aktuellen Zweitgereihten, Nagl, anders behandeln?

Kahr: Natürlich. Wir wollen uns zuerst die Zusammenarbeit der stärksten Parteien anschauen, und das sind die ÖVP und die Grünen.

STANDARD: Und die FPÖ?

Kahr: Bei allem, was uns inhaltlich trennt, ist es wichtig, dass wir jede Stadtregierungspartei ernst nehmen, sie haben ja auch einen Sitz im Stadtsenat durch das Proporzsystem. Und wir wollen auch, dass alle Stadtregierungsparteien in den Aufsichtsräten der stadteigenen Betriebe vertreten sein werden.

STANDARD: Kein Umfärben, keine Jobs an Genossen?

Kahr: Nein, das war so in der schwarz-grünen und in der schwarz-blauen Koalition. Das möchten wir ändern. Das soll auch zeigen, dass wir die Wählerschaft aller ernst nehmen. Ganz wichtig wird es sein, dass die Vergabe von Stellen transparent und nach objektiven Kriterien erfolgt. Wenn im Hearing eine externe Person führt, soll auch die fachliche Seite ausschlaggebend sein, nicht die Partei.

STANDARD: In Medien gab es das Gerücht, dass Sie den dritten Stadtregierungssitz, den die KPÖ errungen hat und den jetzt der KPÖ-Gemeinderatsklubchef Manfred Eber einnimmt, der SPÖ schenken.

Kahr: Ich weiß nicht, woher dieses Gerücht kam, aber das geht ja gar nicht. Man kann ja nicht einfach das Wahlergebnis vom Tisch wischen.

STANDARD: Nach der letzten Wahl wurde der KPÖ das doch erfolgreich geführte Wohnungsressort nach Jahrzehnten weggenommen. Stattdessen blieben die Ressorts Verkehr und Gesundheit für Sie und Robert Krotzer übrig. Was wäre denn jetzt das Herzensressorts?

Kahr: Ich bin schon sehr lange in der Kommunalpolitik und weiß, dass kein Ressort unwichtig ist. Die Wünsche und Bedürfnisse aller Ressort sind mir gut bekannt. Ich kann mich überall einarbeiten. Aber die eigene Schwerpunktsetzung über Jahre ist natürlich Soziales und Wohnen.

STANDARD: Verkehr galt ja in Graz als wenig sexy, um nicht zu sagen als das Ressort, an dem man am besten scheitern kann.

Kahr: Es ist ein hochinteressantes Ressort, das ich durchaus lieben gelernt habe. Wir haben viel umsetzen können auch für die kommende Periode. Wir haben so viele Fußgängerzonen und Begegnungszonen umgesetzt. Graz hat einen der höchsten Anteile an Radwegen in Österreich, knapp 20 Prozent Radfahrerinnen und Radfahrer unter den Verkehrsteilnehmern. Wir haben Lastenräder auch bei Paketzustellern und Carsharing forciert. Und wir müssen den Straßenbahnausbau fortführen, dieses Vorhaben wurde ja auch durch die Zugewinne der Grünen bestätigt.

STANDARD: Also keine Nagl-U-Bahn für Graz?

Kahr: Aus meiner Sicht nicht. Die Expertengruppe, die eingesetzt wurde, kann man auch nicht vom Tisch wischen, auch die Verkehrsplanung der Stadt hat immer gesagt, dass wir das auf der objektiven Ebene geklärt haben.

STANDARD: Zurück zu den Grünen. Sie fischen in Graz traditionell in einem sehr ähnlichen Wählerpool. Da hätte man im Wahlkampf Animositäten feststellen können.

Kahr: Ich bin verpflichtet, darauf zu achten, was wir selbst machen; wie uns andere Parteien sehen, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, wie uns die Leute wahrnehmen, der Kompass unserer Arbeit richtet sich danach. Für das andere habe ich weder Zeit noch sonst was. Entscheidend ist, wo trifft man sich inhaltlich. In Fragen des Verkehrs und der Bebauung, bei der unter der ÖVP ja alles zugebaut wurde mit Wohnungen, die sich fast niemand leisten kann, ist es logisch, dass wir mit den Grünen zusammenarbeiten können. Unsere Positionen sind ja durch die Wählerschaft unterstützt worden. Ich habe zu Judith Schwentner am Wahlabend gesagt: "Ist dir eigentlich bewusst, dass zwei Parteien dazugewonnen haben, die von Frauen geführt werden?!" Das ist schon auch ein erfreuliches Signal.

STANDARD: Nervt es, seit 30 Jahren immer nach dem Kommunismus im Namen der KPÖ gefragt zu werden?

Kahr: Nerven weniger. Den Fragenstellern der Medien ist es wichtiger als den Leuten. Man versucht etwas zu suggerieren, was bei den Menschen eh nicht zieht, weil sie uns kennen. Das war schon bei Ernest Kaltenegger so und seit 15 Jahren oder länger bei mir. Aber jede Frage verdient eine Antwort. Ich glaube aber nicht, dass wir uns fünftausendmal von etwas distanzieren müssen, wo wir uns gar nie hätten distanzieren müssen. Denn ich habe nie etwas von einem Stalin gehalten, habe die Menschenrechtsverbrechen in kommunistischen Regimen schrecklich gefunden, den Einmarsch in der ČSSR auch, ich bin auch kein Fan Nordkoreas. Das ist Despotismus und hat nichts mit meiner Weltanschauung zu tun.

STANDARD: Jetzt hätten wir die Distanzierungen auch durch.

Kahr: Ich bin Marxistin, und wir gehen in der steirischen KPÖ seit über 30 Jahren einen komplett eigenen Weg, sogar getrennt von der Bundespartei. Wenn man aber das Arbeiten für eine sozial gerechtere Welt unbedingt verteufeln will, dann weiß ich auch nicht. Immer vergleicht man uns nur mit Regimen aus dem Osten, die aus einer Idee des Kommunismus etwas ganz anderes gemacht haben.

STANDARD: Womit würden Sie lieber verglichen werden?

Kahr: Viele Leute verehren Kommunisten und Kommunistinnen, etwa in der Kultur, und wissen es gar nicht. Marcello Mastroianni zum Beispiel war Kommunist, oder einer meiner Lieblingsregisseure, Aki Kaurismäki, und natürlich Bert Brecht und die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky. Und wir haben auch erfolgreiche Schwesternparteien: in Schweden, Slowenien, Portugal und in Japan zum Beispiel.

STANDARD: Warum freuen sich so viele mit Ihnen und schreiben Ihnen hunderttausend Mails, wie Sie sagen?

Kahr: Ich glaube, es macht den Leuten Hoffnung zu sehen, dass man mit Anstand und ohne daran zu denken, sich in die eigenen Taschen zu wirtschaften, einen Erfolg haben kann. Mehr Freundlichkeit, Menschlichkeit und soziale Gerechtigkeit – das wünschen sich halt einfach wirklich viele. (Colette M. Schmidt, 28.9.2021)