Sachsen und Thüringen erlebten am Sonntag ihr blaues Wunder – die AfD legte zu.

Foto: EPA/MARTIN DIVISEK / POOL

Dass jenes Land, das heute Deutschland heißt, erst seit 150 Jahren als Nationalstaat besteht und vorher ein höchstens loser Bund aus Klein- und Kleinststaaten verschiedenster Couleur war, tritt angesichts der überaus bewegten neueren Geschichte unseres Nachbarlands mitunter in den Hintergrund. Nun hat Klaudia Seibel, Literaturwissenschafterin aus dem hessischen Wetzlar, die alten Verhältnisse aber auf Twitter in einen höchst aktuellen Kontext gerückt: "Identifizieren Sie auf dieser Karte die Grenzen der Königreiche Preußen, Bayern und Sachsen von 1870 sowie die wichtigsten katholischen Bistümer", schrieb sie und kopierte eine Karte mit den Ergebnissen der Bundestagswahl dazu.

Und siehe da: Tatsächlich decken sich die Hochburgen der Parteien mitunter erstaunlich genau mit den oben genannten, heute zu Deutschland vereinigten Gebieten. "Interessant ist ja, dass es keine Ost-West-Teilung ist, sondern sich Sachsen, Bayern und Baden-Württemberg deutlich abheben", sagt Seibel.

Ob dies dem Zufall geschuldet ist oder doch die Geschichte nachwirkt, wie Seibel vermutet, hat der STANDARD im Gespräch mit einem Historiker versucht herauszufinden.

Natürlich spielte bei der Frage, wer wo wie wählt, eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle, sagt Christoph Nonn von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Die wichtigsten: die Religion, das Stadt-Land-Gefälle, die wirtschaftliche Entwicklung und die Erfahrung der Menschen mit den Regierenden.

Nicht nur Religion entscheidend

Die CSU in Bayern etwa sei eben nicht nur wegen des dort überwiegenden Katholizismus noch immer so erfolgreich, sagt er, sondern auch weil die Partei seit dem Zweiten Weltkrieg mit dem Aufstieg Bayerns vom Armenhaus zum Technologievorreiter verbunden wird. Das Industrieland Saarland im Südwesten – Heimat von Oskar Lafontaine und Erich Honecker – hingegen wählte trotz der katholischen Dominanz am Sonntag mehrheitlich die SPD.

Grafik: STANDARD

Rote Keimzelle im Osten

Mehr Stoff für Freundinnen und Freunde historischer Erklärungen ortet der Professor da schon im Osten der Republik. Dass die rechtsextreme AfD ausgerechnet in Sachsen und Thüringen heute ihre Hochburgen hat, lässt sich Nonn zufolge durchaus auf historische Entwicklungen seit 1870 zurückführen, wie es der Tweet suggeriert. "Sachsen, wo die Industrialisierung ebenso wie in Thüringen früh eingesetzt hatte, nannte man um 1900 das rote Königreich, weil dort die Sozialdemokraten ebenfalls sehr erfolgreich waren", sagt Nonn. Der Realsozialismus nach 1945 sei dort zu Beginn freudig begrüßt worden, die DDR habe die Menschen in dieser roten Keimzelle dann aber rasch enttäuscht. "Dass nach der Wende statt der von Helmut Kohl versprochenen blühenden Landschaften ein "Abbau Ost" folgte, stellte die zweite Enttäuschung dar", so Nonn.

Grafik: STANDARD

Diesmal wandten sich die Menschen nicht vom SED-Sozialismus ab, sondern vom rheinischen Kapitalismus der Marke CDU – und suchen nun ihr Glück bei der AfD. "Der Norden der DDR war nach dem Krieg sehr stark agrarisch geprägt, für diese Regionen war der Sozialismus ein Sprung nach vorne", sagt Nonn. Dort könne man sich mit der SPD heute besser anfreunden als im Süden.

Ein Fazit: Zum Teil, sagt Nonn, könne man das heutige Wahlverhalten der Deutschen durchaus noch aus den Verhältnissen im 19. Jahrhundert herleiten. "Das meiste davon ist aber viel später passiert und ein Teil davon auch schlicht Zufall." Klaudia Seibel, deren Tweet mittlerweile eine Million Aufrufe verbucht und von TV-Star Jan Böhmermann geteilt wurde, erklärt sich den Erfolg ihres Gedankenexperiments so: "Vielleicht weil’s eine einfache Erklärung für ein frappierendes Ergebnis ist". (Florian Niederndorfer aus Berlin, 29.9.2021)