Schon Mitte September sind Pflegekräfte in Berlin auf die Straße gegangen.

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Der Hebamme aus der Berliner Charité war die Verzweiflung am Dienstag bei einer Pressekonferenz der Gewerkschaft Verdi anzumerken: "Ich hatte einen Dienst, da waren alle sechs Betten im Kreißsaal mit Gebärenden belegt, und ich und eine Kollegin waren allein. Das war schon mehr als grenzwertig", erzählt die Frau. Auf ihrer Station mussten im letzten Jahr jeden Monat für 20 bis 30 Prozent der Dienste Einspringerinnen gesucht werden, weil es aufgrund von Überarbeitung viele Dauerkranke gibt oder sich viele in die Krankheit flüchten, "weil sie den Druck nicht mehr aushalten".

Wie DER STANDARD berichtete, befinden sich in Berlin die Belegschaften der Charité, des landeseigenen Klinikkonzerns Vivantes und jene der ausgelagerten Vivantes-Tochterfirmen seit drei Wochen im Streik. Mittlerweile haben über tausend Pflegekräfte und weitere Krankenhausarbeitskräfte ihre Arbeit niedergelegt. Während man bei der Charité schon vergangene Woche eine Einigung zum Greifen nahe sah, wurden die Verhandlungen Ende der Woche abgebrochen. Bei Vivantes bekam man laut Mitarbeitern und Gewerkschaftsvertretern überhaupt Angebote vom Arbeitgeber vorgelegt, die sogar eine Verschlechterung des Istzustandes bedeutet hätten.

Geht es nach Verdi, sollen mit der Vivantes-Muttergesellschaft diese Woche am Mittwoch, Donnerstag und Freitag Sondierungsgespräche stattfinden. Es geht vor allem bei Vivantes und den schlechter bezahlten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ihrer Tochtergesellschaft um gerechtere Tarifverträge, während bei der Charité die Mindestpersonalbesetzung der Knackpunkt ist. Vor der Wahl hatten alle Parteien Hilfe signalisiert, an diese Versprechen wolle man diese nun erinnern. "Die Politik ist jetzt gefordert, das, was sie uns versprochen hat, mit in die Koalitionsverhandlungen zu nehmen und dort genügend Geld zur Verfügung zu stellen. Das Land muss in die Tasche greifen", forderte Anja Voigt, eine Betriebsrätin und Krankenschwester auf der Intensivstation des Vivantes-Klinikums in Neukölln.

Auch auf ihrer Station gebe es beim Personal schon eine Krankheitsquote von 25 Prozent.

Gespräch mit Giffey

Man wolle unter Bedingungen arbeiten, die die Einhaltung wissenschaftlicher Standards und moralischen Anstands im Umgang mit den Patienten ermöglichen, so Voigt.

Am Dienstag gab es ein erstes Treffen mit der künftigen Bürgermeisterin der Stadt, Franziska Giffey von der SPD.

Verdi will für die Belegschaften aller Berliner Krankenhäuser gemeinsame Standards. Zurzeit liegen etwa für Vivantes schlechtere Angebote auf dem Tisch, wenn es um Regeln des sogenannten Belastungsausgleichs geht. Dabei handelt es sich konkret um Punkte, die man sammelt, wenn man in einer unterbesetzten Schicht arbeiten muss. Fünf solcher Dienste ergeben an der Charité einen Belastungspunkt, der acht Stunden wert ist, die man in Freizeit oder Geld konsumieren kann.

Personalknappheit auf der Psychiatrie

Vivantes hat seinen Arbeitnehmern einen solchen Punkt erst nach zwölf Stunden, für Auszubildende nach 48 Stunden angeboten. Das sei "unannehmbar", wie Tim Graumann, Gewerkschaftssekretär bei Vivantes, bei der Pressekonferenz betonte. Besonders schlimm sei die Personalknappheit auch auf der Psychiatrie.

Wenn durch Corona die Patientenzahlen wieder steigen, gebe es nur die Möglichkeit weiterer Aufnahmestopps. Für die Gewerkschaft ist nun jedenfalls die "Woche der Entscheidungen" gekommen. (Colette M. Schmidt aus Berlin, 29.9.2021)