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Sie baumeln als Pendelanhänger an langen Halsketten, umspielen Handgelenke an Armbändern oder klackern in kleinen Beuteln – die Lieblingsaccessoires vieler junger Menschen sind zurzeit bunte Steine. Das nicht, weil diese eine günstige Alternative zu Diamanten sind. Und nein, es ist auch kein Geologie-Hype ausgebrochen.

Die Generation Z trägt die schönen Steine wegen der "heilenden Wirkung", die ihnen in esoterischen Kreisen zugeschrieben wird: Amethyst soll für mehr Konzentration und Ruhe, Rosenquarz für guten Schlaf und Hilfe in Liebesdingen sorgen, Bergkristall gegen Energieblockaden helfen. Von jeher glauben Menschen an eine therapeutische Wirkung von Mineralien, nun entdeckt auch die junge Generation die spirituelle Anwendung für sich: Auf Youtube und Tiktok steht esoterischer Content zu Chakren, Tarot oder eben "Crystal Healing" (Heilung durch Mineralien) hoch im Kurs. In zig Videos geben Influencerinnen Tipps für Neulinge in der Welt der Heilsteine, präsentieren stolz ihre umfangreichen Sammlungen oder erzählen hochemotional, warum sie sich den Mineralien zuwandten.

Spirituelle Shoppingtour

Auch im realen Leben befasst sich die Gen Z auf einmal mit den schönen Steinen. In Wien gibt es vor allem im siebenten Bezirk einschlägige Geschäfte, vor denen die junge Klientel zu Stoßzeiten sogar Schlange steht – wie zum Beispiel vor dem Laden von Hana Dziacek in der Neubaugasse. Die gebürtige Tschechin betreibt seit 1994 das "Mineralien Atelier". In dem langen, schmalen Raum ist kaum ein Quadratzentimeter frei, alles ist voll mit Steinen: Amethyste, Tigeraugen, Achate oder Citrine – geschliffen, roh oder zu Schmuckstücken verarbeitet.

Die junge Generation entdeckt die spirituelle Anwendung von Mineralien für sich.
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Sie freut sich über den starken Zulauf an junger Klientel. Diese habe einen intuitiven Zugang und lasse sich auf die Thematik vorurteilsfrei ein. Ältere Menschen hätten hingegen manchmal Angst, als esoterisch oder gar verrückt zu gelten, wenn sie sich mit Mineralien beschäftigen. Für die Wirkung, die diesen zugeschrieben wird, interessiere sich aber ein überwiegender Teil ihrer Kundschaft unabhängig vom Alter, so Dziacek.

Anders ein paar Hundert Meter entfernt bei Singer Edelsteine, wo die junge Klientel fast ausschließlich weiblich ist. "Die esoterisch Angehauchten machen bloß 20 Prozent meiner Kundschaft aus", sagt Besitzer Martin Singer. Der Rest kaufe Steine ihrer Ästhetik wegen, als reines Schmuckstück oder aus geologischem Interesse. Trotzdem liegen im Geschäft des Gemmologen zahlreiche Flyer für allerlei esoterisch-energetische Behandlungen genauso wie Bücher zur Heilwirkung von Mineralien.

Schwingungen und Energien der Mineralien

Dass man mit Steinen Krebs heilen oder sich vor Corona schützen könne, glauben weder Singer noch Dziacek. Für solche Einsatzgebiete würden sie ihre Steine nicht verkaufen. Doch beide sprechen von Schwingungen und Energien der Mineralien, die auf den Menschen wirken würden.

Christian Lengauer, Leiter des Instituts für Mineralogie und Kristallographie an der Universität Wien, sagt dazu: "Die Energie eines Minerals ist so schwach, dass sie nur mit wissenschaftlichen Apparaturen gemessen werden kann. Da gibt es nichts, was auf den Menschen übertragen werden kann." Wenn man einen Stein in der Hand halte, passiere also: rein gar nichts. Zwar sei Magnesium im Magnesit enthalten und Kalzium im Calcit, aber damit die Elemente in den menschlichen Organismus gelangten, müsse man sie über den Magen aufnehmen, so Lengauer. Auch auf das Wasser können die Edelsteine nichts übertragen. "Im Leitungswasser gibt es an sich schon mehr Kalzium, als sich aus einem Calcit lösen könnte." Dass Rosenquarz, Amethyst oder Bergkristall unterschiedliche Heilwirkungen entfalten sollen, bereitet dem Wissenschafter nur ein müdes Schmunzeln. Chemisch gesehen seien sie nämlich identisch: Siliziumdioxid. Lediglich minimale Verunreinigungen würden die unterschiedlichen Farben verursachen.

"In der Antike und im Mittelalter haben die Menschen versucht, die Existenz von den Edelsteinen zu erklären, sie mit Sinn zu belegen. Man wollte an etwas glauben. Auch heute will man das. Obwohl wissenschaftliche Erkenntnisse eine Heilwirkung der Steine ausschließen", sagt Lengauer.

Sicher ist sicher

Glaube sei ein wichtiges Motiv, warum sich gerade junge Menschen mit der spirituellen Anwendung von Mineralien befassen, bestätigt Kerstin Schuller, Psychologin beim psychologischen Beratungsdienst Instahelp: "In Zeiten der Unsicherheit, wie zum Beispiel der Corona-Pandemie, sucht man nach etwas, das Sicherheit vermittelt." Früher seien das der religiöse Glaube und die Kirche gewesen. Um sich von den Vorgängergenerationen zu emanzipieren, würden junge Mensch diese Sicherheit anderswo suchen und zum Beispiel bei der Esoterik fündig werden. "Wenn ich durch einen Rosenquarz unter meinem Bett besser schlafen kann, ist auch gar nichts dagegen einzuwenden", so Schuller. Problematisch werde es dann, wenn man sich selbst oder anderen damit schade oder sein ganzes Geld für Steine ausgebe.

Die negativen Auswirkungen des Mineraliensammelns spüren mitunter auch einschlägige Influencerinnen. Auf dem Youtube-Channel von Courtney Violetta finden sich, nebst Content zu Haarpflege, zahlreiche Videos zum Thema Heilsteine. Eines davon trägt den Titel "Warum ich aufhörte, Steine zu sammeln" und hat knapp 120.000 Aufrufe. Darin erzählt die Youtuberin, wie sie als Studentin Spiritualität und damit auch Heilsteine für sich entdeckte. Sie kaufte immer mehr Mineralien, in der Hoffnung, sie würden ihr auch immer mehr Lebensfreude bringen. Irgendwann umfasste die fast manisch aufgebaute Sammlung mehrere Hundert Steine, und es folgte die Erkenntnis: Überraschung, Mineralien lösen keine Probleme.

Courtney Violetta

Das weiß auch Hana Dziacek vom Mineralien Atelier: "Ein Stein macht aus mir nicht den größten Kämpfer. Er ist nur eine unterstützende Maßnahme." Es sei ihr gelungen, dass viele ihrer jungen Kunden und Kundinnen Lebenslust und Leichtigkeit durch die Steine erlangten. Sie hätten den Bezug zur Natur dadurch wiedererlangt und würden selbst regelmäßig Steine suchen gehen.

Und die Youtuberin Courtney Violetta? Wenige Wochen nachdem sie erklärt hatte, keine Steine mehr zu sammeln, präsentierte sie ihre minimalistische Sammlung: Eine Handvoll Mineralien hatte sie behalten, den Rest verschenkt. Doch siehe da, zwei Monate später veröffentlichte sie ein Video mit Heilsteintipps für Anfänger. Darin erklärt die Youtuberin, dass sich ihre selbstauferlegte Abstinenz auf das Sammeln, nicht aber auf das Kaufen von Steinen bezieht. Aha! Den Entzug hat sie also nicht allzu lange durchgehalten. Aber vielleicht gibt es ja auch dafür einen heilenden Stein. (Michael Steingruber, 29.9.2021)