Nachhaltige Eindrücke vom Elend der Welt gewann der politische Autor Manès Sperber (1905–1984) ausgerechnet in Alt-Österreich. Als der Erste Weltkrieg früh auf galizischen Boden übergriff, wurde der Rabbiner-Sohn an seinem Geburtsort Zeuge einer beschämenden Szene. Ein tödlich getroffener Soldat erinnerte das erschrockene Kind an einen Schlummernden, der "im Schlaf geweint hatte". Doch als sich Sperber dem Leichnam nach kurzer Ablenkung noch einmal näherte, bemerkte er, dass "die Schuhe des Toten verschwunden waren".

Das Gefühl der Ausgeliefertseins, das Sperber angesichts dieser Episode empfand, findet sich wieder in dem Erzählwerk Wie eine Träne im Ozean. Dieser gut tausendseitige Elefant von einem Roman, erstmals 1961 auf Deutsch erschienen, enthält die gewissenhafteste Abrechnung, die dem Stalinismus bis heute zuteilgeworden ist: durch einen seiner vormals glühendsten Anhänger.

Sperber war als gelernter Individualpsychologe und Schüler Alfred Adlers 1927 in Berlin in die KPD eingetreten. Seine konspirative Tätigkeit für die Komintern bescherte ihm Aufenthalte in Jugoslawien und später in Paris. Auf dem Höhepunkt der Moskauer "Säuberungen" kehrte er der Partei angewidert den Rücken.

Wurde in den Jahren nach 1945 zum antikommunistischen Mahner, der in deutscher und französischer Sprache schrieb: Manès Sperber, hier 1971.
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Sperber bildete nicht erst nach 1945 eine tragische Figur. Er wurde, ohne in der zweigeteilten Welt des Kalten Krieges verbindlichen Dank zu ernten, zum Dolmetscher. Er vermittelte zwischen der marxistischen Hälfte des Globus und deren "westlichem" Widerpart, blieb als Makler jedoch lupenreiner Demokrat.

Gefühl der Trauer

Nur so lässt sich Sperbers heute verblasste Wirkung angemessen wiederherstellen: In seinen Essays und autobiografischen Werken übersetzte er die authentische Erfahrung totalitärer Gewalt in fundamentale Kritik. Ein grundlegendes Gefühl von Resignation, von unbestimmbarer Trauer erfüllt auch die Romantrilogie. Sie ist – wie praktisch alle Bücher Sperbers – nur im modernen Antiquariat greifbar.

Ein heute in Wien startendes Symposium soll jetzt insbesondere Sperbers Kritik der Tyrannis ins Licht rücken. Die Träne im Ozean enthält mit der Figur des desillusionierten Emigranten Dojno Faber ein nicht immer durchsichtiges Alter Ego von Sperber: einen (nicht ganz so geschliffenen) Bruder im Geiste von Ulrich, dem Begriffsjongleur aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Zahllose Begegnungen mit Genossen, Arbeitern, gestrandeten Intellektuellen bilden die Szenerie. Das Aufbegehren der Kommunisten köchelt über der Empörungsflamme: "Hammer wird, wer nicht Amboss bleiben will." Der Mensch muss von Grund auf geändert werden. Auch wenn er darüber zerbricht.

Im Hintergrund verfestigt sich Hitlers Allmacht. Währenddessen mäht Stalins Terror die Aktivisten im europäischen Untergrund zu Tausenden nieder. Bestürzte Linke wie Dojno fühlen sich zwischen den Mahlsteinen Hitler und Stalin zerrieben. Zugleich wird diesem Einsamen das Leben im Exil zum "Rohstoff für eine systematische Betrachtung". Dieser Entwurzelte bringt, wie Sperber schrieb, den Mut auf, "jene nicht existente Brücke zu betreten, die sich nur vor dem ausbreitet, der seinen Fuß über den Abgrund setzt".

Als chassidischer Jude war Sperber 1916 nach Wien übersiedelt. In der verschwenderischen Pracht der Kaiserstadt wähnte er ein Modell der "Vollkommenheit" zu erblicken. "Freudentränen" lösten bei ihm jedoch erst die 1.-Mai-Aufmärsche in der Ersten Republik aus.

Zwischenposition

Ein diffuses Bedürfnis nach Erlösung, nach Zugehörigkeit mag sein lange Zeit bedingungsloses Eintreten für die kommunistische Sache befördert haben. Nach dem Bruch mit Moskau wurde die ungenützte linke Energie in Erklärungsversuche umgeleitet. Sperber, der nach Kriegsende als überaus einflussreicher Lektor in Paris lebte, investierte: in eine grundlegende Analyse der Macht. Sie bleibt sein Vermächtnis – wie auch der Wiener Philosoph Wolfgang Müller-Funk anmerkt, seit einigen Jahren Präsident der Manès-Sperber-Gesellschaft: "Der Kalte Krieg verunmöglichte eine wirksame Position zwischen den beiden Machtblöcken. Das Motto lautete eigentlich: Tertium non datur."

Seine Freundschaft mit André Malraux verwandelte Sperber keineswegs in einen Gefolgsmann de Gaulles. Dennoch bedachte er zum Beispiel die Pariser Studentenbewegung mit beißendem Hohn. Er hielt die jungen Eiferer für den Nachtrab "auf unseren alten Holzwegen".

An der Gründung des "Kongresses für kulturelle Freiheit" nahm er federführend Anteil. Dessen kompromittierende Finanzierung durch die CIA wurde erst in den 1960ern ruchbar. Womöglich wird das aktuelle Symposium – für das neben Müller-Funk Sabine Bergler und Marcus G. Patka verantwortlich zeichnen – für eine Abklärung sorgen. Sperbers Humanismus lässt sich in kein Kühlfach einsortieren. Er trieb Kritik an der Linken – und blieb dabei selbst radikal. Sperber ist ein Unruheherd geblieben, jenseits von Besserwisserei und Lethargie. (Ronald Pohl, 30.9.2021)