Die Frage, wie der Attentäter an den Tatort gelangt ist, ist nach wie vor nicht restlos geklärt.

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Hamdya* macht sich Sorgen: Soeben hat ein jihadistischer Attentäter in der Wiener Innenstadt um sich geschossen – und sie erreicht ihren Bruder nicht. Um 20.35 Uhr schickt sie eine Whatsapp-Nachricht an dessen Lebensgefährtin Leyla*: "Hat er sich verletzt?" Die antwortet dreißig Minuten später: "Ja, bisschen am Finger." Wo ihr Mann die Stunden davor verbracht hat, weiß sie nicht. Als Leyla ihm an diesem Abend ein Foto des Attentäters K. F. zeigt, soll er zu weinen begonnen haben, zum ersten Mal in ihrer mehrjährigen Beziehung, wie Leyla später aussagen wird. "Ich habe bei ihm gewohnt", gesteht ihr Freund über seine Beziehung zum Attentäter.

Für die Ermittlungsbehörden ist Hashim U.* aber viel mehr als ein Mitbewohner und guter Freund des Wien-Attentäters: Er soll sein engster Komplize sein.

Hektisches Löschen von Chats

Es gibt viele Anhaltspunkte, die Hashim schwer belasten. Seine DNA-Spuren wurden auf Waffen und Patronen gefunden, die beim Anschlag verwendet wurden. Da er bereits ein "bekannter Spurenverursacher" ist, wie es in der Behördensprache heißt, gab es bei diesen DNA-Spuren einen Treffer. "Das sind aber nur sekundäre Spuren, die auch indirekt dort hingelangt sein können", sagt Hashims Anwalt Elmar Kresbach. Laut ergänzendem Gutachten des Forensischen Labors der Med-Uni Wien gibt es jedoch auch Spuren, die auf einen direkten Kontakt hindeuten.

Auch das Verhalten von Hashim U. ist "konspirativ": Am Tag des Anschlags ist sein Handy ab Mittag bis zur Zeit des Attentats ausgeschaltet, danach wird es deaktiviert. Leyla, seine Ehefrau nach islamischem Recht, verschafft ihm ein Alibi. Sie erzählt erst, Hashim habe den ganzen Nachmittag mit ihr verbracht. Später widerruft sie. In der Zeit von 16.25 Uhr bis 19.05 Uhr, der Zeit, in der der Attentäter zum Tatort gelangt sein muss, ist Hashims Aufenthalt ungeklärt – und er verweigert die Aussage.

Leyla erzählt außerdem, dass noch am Tatabend die Familie U. gemeinsam Chats gelöscht und Spuren verwischt haben soll. Auch ein Schlüssel zur Wohnung des Attentäters soll an Hashims Vater übergeben worden sein. Die Familie U. ist amtsbekannt. Das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz schreibt in einem Bericht, der "Clan" sei "seit Jahren als (...) zutiefst islamistisch-fundamentalistisch" identifiziert. Mehrere von Hashims Cousins haben sich 2015 der Terrormiliz IS in Syrien angeschlossen, die meisten kamen ums Leben – ein Cousin soll im Irak inhaftiert sein.

Mit "Allahu akbar" kommentierte Leyla* am Abend des 2. November in einem Chat mit einer Freundin Bilder des Anschlags.
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Anschließend wurde sie auch alarmistisch: "Bereite dich auf alles vor."
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Das Jihadisten-Treffen in Wien

Auch Hashim ist den Behörden schon aufgefallen, die Liste an Verurteilungen des heute 27-jährigen gebürtigen Afghanen ist lang: Raub, Körperverletzung, Nötigung und Sachbeschädigung. Wäre Hashim kein österreichischer Staatsbürger, hätte ihm mehrfach die Abschiebung nach Afghanistan gedroht. So bleibt er in Österreich, ist einmal im Gefängnis, einmal wieder draußen. Er lernt Leyla kennen und bekommt mit ihr drei Kinder – mit dem Jüngsten wurde sie kurz nach dem Terroranschlag schwanger.

Leyla scheint sich ihrer Beziehung nicht sicher zu sein, ihre Rolle ist ambivalent: Einerseits übersetzt und korrigiert sie für Hashim Texte des IS-Unterstützerportals "Ahlut-Tawhid Publications". Andererseits trennt sie sich drei Monate vor dem Anschlag von Hashim, weil er eine Zweitfrau möchte. Und sie schreibt in Chats an Freundinnen, dass sie Angst habe.

Zum Beispiel an jenen Sommertagen im Juli 2020, als ein internationales Jihadistentreffen in Wien stattfindet. Damals bitten deutsche Behörden ihre Kollegen in Österreich, eine Observation der aus Dortmund anreisenden Islamisten durchzuführen. Ermittler entdecken auch den späteren Wien-Attentäter K. F. unter den Anwesenden; er wird nach dem Treffen in die Slowakei reisen, um sich Munition zu kaufen. Dass diese Vorgänge keinen Alarm ausgelöst haben, wird den Behörden als Versagen ausgelegt.

Die Ehefrau hat "ur Angst"

Bisher nicht öffentlich bekannt ist, dass die deutschen, Schweizer und heimischen Jihadisten auch bei Familie U. zu Gast gewesen sein sollen: Zuerst in der Wohnung von Hashims Eltern, dann in seiner Wohnung mit Leyla. Auf deren Handy wurde von diesem Tag ein Foto mit zwölf Paar Schuhen gefunden. Das Handy des späteren Attentäters K. F. loggte sich am 19. Juli 2020 in der Nähe von Hashims Wohnung ein.

Einer Freundin schrieb Leyla: "Mein Mann sagt, morgen kommen irgendwelche Brüder daher, aus Deutschland." Hashims Schwester schrieb sie, sie habe "ur Angst", später: "Die waren einfach bis 4 Uhr da." Mit dabei soll auch der junge Chefideologe der Gruppe gewesen sein: Argjend G. aus St. Pölten. Hashim und G. kennen einander, das zeigen frühere Observationen. Außerdem gibt es Geldflüsse von Leyla an das Umfeld von G., offenbar für den Kauf islamistischer Literatur. In einem Chat beschwert sie sich, dass ihr Mann "nicht einmal auf G." hören würde.

Hashim sitzt nun seit Dezember in Untersuchungshaft, Leyla wurde enthaftet. Die Behörden haben den "dringenden Verdacht", dass er "die Stunden vor der Tat" mit K. F. verbracht habe, um diesen auf das geplante Attentat vorzubereiten. Sie halten es sogar für möglich, dass Hashim ihn in die Nähe des Tatorts fuhr, fanden jedoch keine Spuren in den von Hashim benutzten Autos. Es gilt die Unschuldsvermutung. Anwalt Elmar Kresbach unterstellt den Behörden, Hashim "in etwas hineinzuziehen, um eigene Versäumnisse zu überspielen". Sein Mandant habe "nichts gewusst", den Attentäter "sicher nicht zum Tatort transportiert", und er sei in den Stunden vor dem Anschlag "sicher nicht beim Attentäter" gewesen. *Namen wurden geändert. (Vanessa Gaigg, Jan Michael Marchart, Johannes Pucher, Gabriele Scherndl, Fabian Schmid, 29.9.2021)