Kürzlich sah ich im Internet ein Plakat von pia ("pro familia in action") mit dem Slogan "150 Jahre Kriminalisierung (von Abtreibung) sind genug, weil … jede:r ungewollt schwanger werden kann". Aus zwei Gründen finde ich, dass diese Argumentation überhaupt nicht für den Kampf um reproduktive Selbstbestimmung taugt.

Erstens ist die Aussage falsch. Es kann nicht "jede:r" ungewollt schwanger werden. Menschen ohne Uterus können nicht ungewollt schwanger werden. Menschen nach der Menopause auch nicht. Mir ist schon klar, dass dieser Slogan das #Schwangerwerdenkönnen von der Geschlechterdifferenz trennen möchte, und mit dieser Absicht bin ich auch völlig d'accord. Es ist jedoch problematisch, wenn man die reproduktive Differenz dann vollkommen ignoriert.

Eben nicht jede:r

Denn es ist ja gerade die Krux bei dem Thema, dass eben nicht alle Menschen schwanger werden können, sondern nur etwa die Hälfte. Nur aus diesem Grund konnten patriarchale Kulturen eine symbolische Ordnung schaffen, in der Menschen, von denen man vermutet hat, dass sie schwanger werden können, entrechtet, von Machtpositionen ausgeschlossen und der Kontrolle von Menschen, die nicht schwanger werden können, unterworfen wurden.

Es gibt Menschen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht schwanger werden können. Denn das lässt sich einem menschlichen Körper ansehen. Eine Person ohne Vulva und mit Penis kann zwar in extrem seltenen Fällen doch eine Gebärmutter haben, solche Versionen der Intersexualität heißen Hermaphroditismus verus und treten in der Größenordnung von ungefähr 1:50.000 auf. Dass eine solche Person dann auch tatsächlich schwanger werden kann, ist aber noch viel unwahrscheinlicher, und praktisch ausgeschlossen ist, dass sie dann auch noch ungewollt schwanger wird. Denn dazu müsste sie penetrativen Sex mit Pollenejakulation in der Nähe ihres Gebärmuttermundes haben, was ohne Vagina kaum möglich ist.

Wenn von uneindeutiger Körperlichkeit in Bezug auf das Schwangerwerdenkönnen die Rede ist, geht es in aller Regel um die andere Variante, nämlich um Körper, die möglicherweise schwanger werden können. Dies lässt sich nämlich in der Tat nicht sicher anhand der Genitalien prognostizieren, weil auch eine Person im gebärfähigen Alter mit Vulva und Brüsten aus den unterschiedlichsten Gründen vielleicht trotzdem nicht schwanger werden kann. Das heißt, das Schwangerwerdenkönnen ist im konkreten Fall immer unsicher, und ob eine Person schwanger werden kann, stellt sich erst heraus, wenn sie es tatsächlich ist.

"Mein Uterus, meine Entscheidung".
Foto: imago images/aal.photo/Aaron Karasek

Abtreibung für Männer wäre ein Sakrament

Das Nichtschwangerwerdenkönnen hingegen ist mit fast hundertprozentiger Sicherheit eindeutig. Menschen, die nicht schwanger werden können, wissen ganz genau, dass Verbote wie der Paragraf 218 (in Deutschland der Paragraf zum Schwangerschaftsabbruch) sie persönlich nicht betreffen können. Nur deshalb sind Gesetze zur Kontrolle der reproduktiven Fähigkeiten von Menschen mit Uterus so persistent, obwohl sie eine Menschenrechtsverletzung darstellen und mit demokratischen Freiheitsrechten unvereinbar sind.

"Könnten Männer schwanger werden, wären Abtreibungen ein Sakrament", lautet ein alter Spruch der Frauenbewegung (den Florynce Kennedy und Gloria Steinem offenbar von einer alten irischen Taxifahrerin hatten). Er ist zwar in seiner eindimensionalen Verknüpfung von Nichtschwangerwerdenkönnen und Männlichkeit simplifizierend. Was die Verknüpfung von patriarchalen Abtreibungsverboten und reproduktiver Differenz betrifft, so trifft er aber den Nagel auf den Kopf: Der Paragraf 218 existiert überhaupt nur, weil nicht "jede:r" schwanger werden kann.

Abtreibungsverbote sind Menschenrechtsverletzung

Aber der Slogan auf dem pia-Plakat ist auch noch aus einem anderen Grund falsch beziehungsweise von der Argumentation her problematisch. Denn wenn Kriminalisierung von Abtreibung deshalb abgelehnt wird, weil sie "jede:n" betreffen kann, legt das im Umkehrschluss nahe, dass es okay wäre, wenn sie nur einen Teil der Bevölkerung beträfe?

Gerade das Bewusstsein für die Intersektionalität von feministischen und anderen kritischen Ansätzen hat doch gezeigt, dass ethische Prinzipien eben gerade nicht erst von ihrer universalistischen Anwendbarkeit legitimiert werden. Sie gelten auch dann, wenn nicht "jede:r", sondern nur eine bestimmte Teilgruppe von Menschen betroffen ist.

Abtreibungsverbote sind und bleiben eine Menschenrechtsverletzung, auch wenn sie lediglich die Rechte von bestimmten Menschen betreffen. Für den Kampf gegen eine Kultur, die Menschen mit Uterus das Recht auf körperliche Selbstbestimmung und Unversehrtheit verweigert, ist es also vollkommen unerheblich, ob es dabei um die Hälfte, ein Viertel, ein Achtel oder ein Hundertstel der Bevölkerung geht.

Auch wenn nur ein einziger Mensch auf dieser Welt ungewollt schwanger werden könnte, dürfte man ihr oder ihm die Möglichkeit einer Abtreibung nicht vorenthalten. (Antje Schrupp, 4.10.2021)