Es war eine der spektakulärsten Entführungen des 20. Jahrhunderts: Am Abend des 11. Mai 1960 schnappten israelische Geheimdienstagenten Adolf Eichmann in San Fernando, einer Vorstadt von Buenos Aires. Wenige Tage später verfrachteten sie den Chefbürokraten der Judenvernichtung betäubt und in der Uniform eines Piloten der israelischen Fluglinie El Al nach Israel. Dort machte man ihm ein Jahr später einen aufsehenerregenden Prozess, der unser Verständnis vom Holocaust bis heute prägt.

Adolf Eichmann nach seiner Gefangennahme in einem Gefängnis in Israel.
Foto: imago images/United Archives Int

Über Eichmanns Verbrechen und das Verfahren im Jahr 1961 und seine Hinrichtung 1962 – das einzige Todesurteil, das je in Israel vollstreckt wurde – sind dutzende Bücher verfasst worden. Am bekanntesten ist Hannah Arendts legendärer Bericht "Eichmann in Jerusalem", der nach wie vor die Diskussionen prägt. Weniger gut war hingegen lange bekannt, wie Eichmann, der von 1914 bis 1933 in Oberösterreich gelebt und sich dort politisch radikalisiert hatte, 1950 nach Argentinien gelangte und dort die zehn Jahre bis zu seiner Entführung verbrachte.

Zwei Standardwerke zum Thema

Einige dieser Forschungslücken schloss der argentinische Journalist und Autor Uki Goñi, dessen quellenreiche Studie "Odessa – Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher" (engl. Original 2002) kürzlich im Verlag Assoziation A auf Deutsch wiederaufgelegt wurde. Goñi zeigt darin unter anderem, wie sehr sich die Regierung von Juan Perón ab 1946 aktiv um Nazis bemühte – auch deshalb, um das Land zu modernisieren. Das bis heute unübertroffene Standardwerk zum Thema ist aber das Buch "Eichmann vor Jerusalem" von der deutschen Philosophin und Historikerin Bettina Stangneth, die wiederum auf Goñis Buch aufbaut.

Uki Goñi: "Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher". € 22,90 / 440 Seiten. Assoziation A, Hamburg/Berlin 2021 (Neuauflage).

In ihrer bahnbrechenden Studie, die vor zehn Jahren erschien, rekonstruiert sie auf mehr als 600 Seiten minutiös "das unbehelligte Leben eines Massenmörders" (so der Untertitel). Stangneth beantwortet darin fast alle wichtigen Fragen: Wie lebte er unter dem Pseudonym Ricardo Klement in Argentinien? Welche Kontakte hatte er zu anderen nach Südamerika geflüchteten SSlern und Gesinnungsgenossen sowie nach Deutschland? Und schließlich: Wie wurde sein Aufenthaltsort an den Mossad verraten?

Eichmann und das Thema des "Bösen" haben Stangneth seither nicht mehr losgelassen. Zehn Jahre nach ihrem Buch gelang ihr nun ein weiterer Coup: Die bisherige Version der Geschichte, wie der Massenmörder in Buenos Aires aufgespürt wurde, erwies sich laut ihren neuen Recherchen als korrekturbedürftig. Denn mehr als 60 Jahre danach konnte sie jenen lange anonym gebliebenen Mann enttarnen, der Eichmann 1959 enttarnt hatte.

Ein Roman als Wagnis

Mehr dazu weiter unten. Zunächst sei nämlich noch ein neuer Roman empfohlen, der Eichmanns Zeit in Argentinien ziemlich faktengetreu rekonstruiert – auf einem Drittel der Länge von Stangneths Wälzer und aus einem gewagten Blickwinkel: Der argentinische Journalist und Schriftsteller Ariel Magnus, ein Nachfahre von Holocaust-Überlebenden, erzählt in "Das zweite Leben des Adolf Eichmann" die Ereignisse nämlich aus der Perspektive des Massenmörders.

Ariel Magnus: "Das zweite Leben des Adolf Eichmann". € 20,60 / 236 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021

Die Handlung beginnt im Jahr 1952. Eichmann lebt seit zwei Jahren in Argentinien und will seine Frau, die mit den gemeinsamen Kindern nach Argentinien nachgekommen ist, mit einem Blumenstrauß begrüßen. Doch alle Blumenläden sind ausverkauft, weil die Präsidentengattin Evita Perón gerade gestorben ist. "Warum muss er immer so ein Pech haben?" Das ist der erste Satz des Romans, das auf Spanisch den Titel "El Desafortunado" trägt, auf Deutsch in etwa "Der Unglückselige".

Eichmanns argentinische Stationen

Danach folgt, basierend auf den verfügbaren Fakten, eine Schilderung von Eichmanns wichtigsten Stationen und Begegnungen im argentinischen Exil: Er arbeitet zunächst im nordargentinischen Tucumán als Vermesser für die Firma Capri (Compañía Argentina para Proyectos y Realizaciones Industriales), die noch zahlreiche weitere SS-Männer aus Deutschland und Österreich im Sold hat. Das Unternehmen, das vor allem mit Wasserkraftprojekten beschäftigt ist, macht aber bald Bankrott.

Danach wechselt Eichmann zurück nach Buenos Aires, scheitert mit einer Wäschereifirma, ehe er bei der argentinischen Zweigstelle von Daimler-Benz anheuert. Daneben versucht sich Eichmann als Kaninchenzüchter, trifft nachgewiesenermaßen weitere Kriegsverbrecher wie den Auschwitz-Arzt Josef Mengele, mit dem er aber wenig anfangen kann. Und er gibt dem niederländischen Ex-SS-Mann Willem Sassen, dem Vater der Soziologin Saskia Sassen, 1956 über vier Monate lang ein umfassendes Interview.

Ein anderes Bild des "Deportologen"

"Das zweite Leben des Adolf Eichmann", so der deutsche Titel des Romans, entwirft ein etwas anderes Psychogramm des Chefarchitekten der "Endlösung", als es Hannah Arendt zeichnete. Eichmann, den Magnus unter anderem auch als "Deportologen" bezeichnet, ist in der Darstellung des argentinischen Autors kein tumber Befehlsempfänger und auch kein emotionsloses Nazi-Monster, sondern komplexer und widersprüchlicher: "ein mittelmäßiger Typ, der es weit gebracht hat", so Magnus in seinem Nachwort, "ein ziemlich gerissener Trottel" und ein fanatischer, unbelehrbarer Antisemit, der genau wusste, was er tat.

Magnus hat für seinen Roman gründlich recherchiert, ein paar kleine faktische Fehler (so besuchte Eichmann in Linz keine Technische Hochschule; die Passage zu Eduard Pernkopf ist sehr erfunden) sind lässlich. Formal nimmt er sich in seinem Roman aber mehr literarische und sprachliche Freiheiten heraus als etwa sein französischer Kollege Olivier Guez in dessen preisgekröntem Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele" (2018), der ebenfalls das Leben eines NS-Kriegsverbrechers in Südamerika nachzeichnet.

Das Wagnis, das Magnus mit seiner Erzählperspektive einging, ist jedenfalls aufgegangen: Mit seinem bissig-sarkastischen Tonfall hat er einen adäquaten "Sound" für sein Thema gefunden. Und indem er sowohl die Dämonisierung wie auch die Banalisierung des "Mythos Eichmann" umschifft, kommt er der Person Eichmann für den Lesenden fast schon bedrohlich nahe – was sich in der deutschen Fassung auch der kongenialen Übersetzung von Silke Kleemann verdankt.

Die Frage der Enttarnung

Bei der Frage, wie Eichmann enttarnt und vom Mossad geschnappt wurde, folgt Ariel Magnus jener Theorie, die bis vor kurzem als die wahrscheinlichste galt: Eichmanns ältester Sohn Klaus habe sich in Argentinien in Sylvia Hermann verliebt, die Tochter des ebenfalls nach Argentinien ausgewanderten KZ-Überlebenden Lothar Hermann. Und dieser habe dann auf Basis der Informationen seiner Tochter dem deutschen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer den entscheidenden Hinweis gegeben. Doch diese Version – insbesondere die Liebesgeschichte – wurde zuletzt auch von Nachkommen der Hermanns infrage gestellt.

Zehn Jahre nach Erscheinen ihres Buchs präsentierte Bettina Stangneth kürzlich gemeinsam mit dem deutschen Journalisten und Autor Willi Winkler in der "Süddeutschen Zeitung" einen neuen Hinweisgeber, der bislang unbekannt war. Laut ihren Recherchen war es der deutsche Historiker und Geologe Gerhard Klammer, der den argentinischen Aufenthaltsort von Eichmann verriet – über dessen Verbleib die deutschen und US-Geheimdienste vermutlich die meiste Zeit im Bilde gewesen sein dürften.

Klammer, ebenfalls ein ehemaliger SS-Angehöriger, aber nach 1945 alles andere als ein überzeugter Nazi, arbeitete so wie Eichmann 1950 bis 1953 bei der Firma Capri in der Provinz Tucumán. Und bereits danach versuchte er deutsche Stellen über Eichmanns Aufenthaltsort zu informieren, die aber wenig Interesse zeigten. Sechs Jahre später, im Herbst 1959, kam es dann laut den Recherchen von Stangneth und Winkler zu einer weiteren Zufallsbegegnung zwischen Eichmann und Klammer, diesmal im Großraum Buenos Aires.

Kirchliche Verbündete

Klammer verfolgte Eichmann unerkannt bis zu seinem Haus, das damals die Adresse Calle Chacabuco 4261 (heute: Garibaldi 6067) trug, und verriet Eichmanns Adresse dem Ehepaar Giselher und Rosemarie Pohl, mit dem er aus der Studienzeit in Göttingen befreundet war. Über Giselher Pohl, einen evangelischen Pfarrer, wurde die heiße Information an den evangelischen Militärbischof Hermann Kunst weitergeleitet und über den letztlich an Fritz Bauer – eine auf den ersten Blick überraschende Verbindung, da Kunst ein politisch Konservativer war, Bauer hingegen ein atheistischer Sozialdemokrat jüdischer Herkunft.

Bauer, der Generalstaatsanwalt in Hessen, reichte die neuen Auskünfte über Eichmann im Dezember 1959 an den Mossad weiter, ohne allerdings den Namen seines Informanten zu nennen. Wenig später ordnete Israels Ministerpräsident und Verteidigungsminister David Ben-Gurion die Ergreifung Eichmanns an, die im Mai 1960 vollstreckt wurde. (Klaus Taschwer, 9.10.2021)