Der Politologe Jan-Werner Müller schreibt in seinem Gastkommentar über das Gute und das Schlechte an der deutschen Wahl.

Zunächst die schlechte Nachricht: Bei der deutschen Bundestagswahl musste die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) zwar Verluste hinnehmen, erreichte aber immer noch über zehn Prozent der Stimmen. Trotz ständiger interner Querelen und vieler Skandale scheint die Partei dauerhaft in der politischen Landschaft Deutschlands verankert zu sein. Aber die gute Nachricht ist, dass viele vorherrschende Meinungen über die extreme Rechte durch die Wahl widerlegt wurden: Die westlichen Demokratien müssen nicht ständig Kulturkämpfe ausfechten; große Koalitionen der linken und rechten Mitte müssen nicht unbedingt die politischen Extreme stärken; und sozialdemokratische Parteien können gut funktionieren, ohne an nativistische oder islamophobe Gefühle zu appellieren.

Westliche Demokratien müssen nicht ständig Kulturkämpfe ausfechten.
Foto: APA / EPA / Filip Singer

Viele kluge Beobachter haben gesagt, die Politik in den Industrieländern sei heute durch die Auseinandersetzung zwischen kosmopolitischen Liberalen und stärker "verwurzelten" Kommunitaristen (um einen möglichst neutralen Begriff zu verwenden) geprägt. Auch wenn sich einige Konflikte durchaus anhand einer mehr oder weniger simplizistischen Aufteilung zwischen "Weltbürgern" und "Ortsbürgern" interpretieren lassen, gibt es doch noch viele andere Probleme, die nicht auf diesen Gegensatz reduziert werden können.

In Deutschland hat die Einwanderung in den letzten Jahren als großes Thema an Bedeutung verloren. Vor dieser Wahl haben die Bürger stattdessen die Renten, die Zukunft des Wohlfahrtsstaats und das Klima als Themen genannt, die sie am stärksten beschäftigen. Die wichtigsten Parteien vertreten dazu unterschiedliche Positionen, und der klassische Wahlkampf zwischen der rechten und der linken Mitte hat sich für die Rechtsextremen als schlechte Nachricht erwiesen.

Typische populistische Beschwerde

Die Tatsache, dass die Bürger die Wahl zwischen zwei klaren politischen Alternativen hatten, bedeutet, dass die typische populistische Beschwerde, alle "Mainstream"-Parteien seien identisch, und angeblich korrupte Eliten verfolgten alle die gleiche Politik, um "dem Volk" zu schaden, kaum glaubhaft wirkte. Auch die große Koalition zwischen der Sozialdemokratischen Partei (SPD) und der Christlich-Demokratischen Union (CDU) der scheidenden Kanzlerin Angela Merkel gab keinen Anlass zu der Annahme, solche Bündnisse würden extremistischen Parteien zugute kommen. Stattdessen ließen die Sozialdemokraten einen klaren Linksruck und einen Bruch mit der Ära Merkel erkennen.

Außerdem war spekuliert worden, dass Bürger, die mit der Pandemiepolitik der Regierung unzufrieden waren, einfach aus dem Grund die AfD wählen würden, weil dies als die einzige konsequente Möglichkeit erscheinen könnte, um Protest zu äußern. Immerhin ist die AfD die einzige Partei, die im deutschen Föderalsystem, in dem 16 Bundesländer von neun unterschiedlichen Koalitionen regiert werden, nirgendwo an der Macht ist.

Dafür, dass dies nicht geschehen ist, gibt es zwei Gründe: Erstens halten viele Deutsche die AfD für eine Partei, die zu historischem Revisionismus neigt, also zur Relativierung der Nazi-Vergangenheit. Es scheint, dass sogar eingefleischte Konservative, die vom Umgang der CDU mit Covid-19 tief enttäuscht waren, nicht mit etwas in Verbindung gebracht werden wollen, dass nach Neonazismus schmeckt. Dass es die AfD nicht geschafft hat, unzufriedene Wähler für sich zu gewinnen, zeigt, dass ihr Versuch, sowohl respektabel als auch radikal zu wirken, nicht sehr lange funktioniert hat.

"Wie die Republikaner in den Vereinigten Staaten hat auch sie versucht, während der Pandemie die "Freiheit" zu monopolisieren, aber dieser Versuch wurde von den deutschen Liberalen vereitelt, die Liberale im klassischen europäischen Sinn sind."

Der andere Grund dafür, dass die AfD nicht mehr Unterstützung bekam, ist weniger offensichtlich: Wie die Republikaner in den Vereinigten Staaten hat auch sie versucht, während der Pandemie die "Freiheit" zu monopolisieren, aber dieser Versuch wurde von den deutschen Liberalen vereitelt, die Liberale im klassischen europäischen Sinn sind. In einigen hochkarätigen Plenardebatten hat sich die FDP als klare Alternative zur AfD erwiesen: Sie hat sich im Namen der Freiheit glaubwürdig gegen pandemische Einschränkungen ausgesprochen, ohne dabei in die Nähe von Verschwörungstheorien zu geraten oder die Linie zwischen der Kritik an den Maßnahmen und einem Angriff auf das politische System zu überschreiten.

Europäischer Trend

Und schließlich hat es eine Rolle gespielt, dass sowohl die SPD als auch die CDU einem großen europäischen Trend widerstanden haben: die extreme Rechte dadurch zu etablieren, Teile ihrer Rhetorik und Politik zu übernehmen. Gelegentliche Versuche, im Wahlkampf Nebelkerzen zu werfen, sind gescheitert. Dass Armin Laschet, der CDU-Kandidat für Merkels Nachfolge, bei der Übernahme Afghanistans durch die Taliban sagte, 2015 dürfe "nicht wiederholt werden", wurde weithin als Fauxpas betrachtet. Und der CDU-Politiker Hans-Georg Maaßen, der sich am deutlichsten als "AfD light"-Kandidat präsentieren wollte, wurde eindeutig überstimmt.

AfD-Politiker Björn Höcke und Kanzler? Zur Wahl stand seine Partei. Und die hat am vergangenen Sonntag bescheiden abgeschnitten.
Foto: Imago Images

Jetzt erleichtert zu seufzen wäre allerdings völlig falsch. Aus einer einzigen Wahl kann nur eine gewisse Anzahl von Lehren gezogen werden, und die CDU könnte sich immer noch für die falsche entscheiden: Nach dem schlimmsten Ergebnis ihrer Geschichte könnten die Rufe lauter werden, sich nach rechts außen zu öffnen, obwohl die Partei die meisten ihrer Wähler an die SPD und die Grünen verloren hat. Die Rechtsextremen selbst wiederum sind nun in Teilen von Ostdeutschland fest verankert – besonders in Sachsen und Thüringen, wo sie, im Gegensatz zu anderen Teilen Deutschlands, von den Jungen unterstützt werden und wo ihr extremer Flügel den Ton angibt. Dieser Flügel wird sich nun noch mehr gestärkt fühlen. Und dass die Wahlergebnisse insgesamt nicht so schlimm ausgefallen sind, wie mancher vielleicht befürchtet haben mag, wird die Opfer des rechtsextremen Hasses vor Ort wohl kaum beruhigen. (Jan-Werner Müller, Übersetzung: Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 1.10.2021)