Die neue Wunderwelt der Öffis in Österreich: Mit Billignetzkarten sollen Fahrgäste in Massen in Bahn und Bus gelockt werden.

Foto: Swiss Travel System / Tobias Ryser

Wien – Die Erlösung war den Anwesenden im Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse ins Gesicht geschrieben: Endlich ist die Fehde um das Klimaticket zu Ende. Es war ein bisweilen erbitterter Kampf, den Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ), der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil und vor allem Niederösterreichs Frontfrau Johanna Mikl-Leitner mit Verkehrsministerin Leonore Gewessler (Grüne) führten.

Überlebt haben alle, am Donnerstag wurde nur mehr gejubelt. Der Kompromiss enthält neben einer einfacheren Tarifstruktur im Verkehrsverbund Ost-Region (VOR) regionale Klimatickets zu Einheitspreisen, die bis zu 60 Prozent unter den aktuellen Streckentarifen von Wochen-, Monats- und Jahreskarten liegen. Neu sind nun die Namen der regionalen Netzkarten, die Grundstruktur einfacher als derzeit.

Regional und überregional

In Wien bleibt alles gleich, die Jahreskarte von Wiener Linien kostet bei Einmalzahlung im Voraus 365 Euro. Für Niederösterreich und das Burgenland kommt am 26. Oktober – DER STANDARD berichtete exklusiv – ein gemeinsames Regionalticket, das "VOR Klimaticket Region", um 550 Euro pro Jahr.

Für Wien-Pendler aus Niederösterreich und dem Burgenland kommt darüber hinaus das VOR Klimaticket Metropolregion um 915 Euro. Es umfasst alle drei im VOR vereinten Bundesländer und ist zwar teurer als das ursprünglich angestrebte Zwei-Euro-Ticket pro Tag für zwei Bundesländer (730 Euro pro Jahr), aber immer noch billiger als die bis dato in Verwendung befindlichen Streckenkarten von Retz oder Krems nach Wien.

Herzensanliegen ganz oben

Oben drauf kommt der Herzenswunsch der Ministerin, das österreichweite Klimaticket für alle Öffis im Land um 1095 Euro im Jahr.

Das zähe Ringen scheint sich für die Landeshauptleute insofern gelohnt zu haben, als der finanzielle Beitrag seitens des Bundes zumindest auf den ersten Blick nicht so schlecht aussieht: Wien, das nach den ursprünglichen Plänen des Ministeriums gar keinen Ersatz bekommen sollte für die zum Österreich-Klimaticket abwandernden Fahrgäste, bekommt nun 36 Millionen Euro, gab Bürgermeister Ludwig auf Nachfrage bekannt.

Für Niederösterreich und das Burgenland beträgt der Bundeszuschuss, der auch dem weiteren Ausbau des öffentlichen Verkehrs anschieben soll, 50 Millionen Euro. Damit war der "Freudentag", wie es Johanna Mikl-Leitner nannte, perfekt, denn die Gegenleistung, eine neue Ticketarchitektur aus einem Guss, tritt am 26. Oktober in Kraft.

Buchbar sind die neuen Fahrkarten ab heute, Freitag, wobei das österreichweite Klimaticket zum Vorzugspreis von 949 Euro zu haben ist.

Attraktiv, aber teuer

Der Verkehrsexperte der Wirtschaftsuniversität Wien, Sebastian Kummer, sieht das neue System kritisch. Es sei zu begrüßen, den öffentlichen Verkehr zu attraktivieren. Allerdings sei der Preis dafür aus Sicht des Steuerzahlers sehr hoch. "Die Grenzkosten für die Nutzung von Bahn und Bus gehen gegen null", sagte Kummer im Gespräch mit dem STANDARD. Je öfter jemand fährt, desto billiger wird die einzelne Fahrt. Gleichzeitig werde allerdings die Finanzierungsstruktur des öffentlichen Verkehrssystems deutlich ausgehöhlt – Geld, das die Länder und Kommunen für den Ausbau von Bahn und Bus dringend brauchen.

Soziale Gerechtigkeit?

Auch aus Sicht der sozialen Gerechtigkeit sei das neue System kritisch zu sehen: "Wir schütten relativ viel Geld für Bestandskunden aus, unterscheiden aber nicht nach Bedürftigkeit", sagt Kummer mit Verweis auf das Schweizer Generalabo um mehr als 3000 Euro oder die Bahncard 100 der Deutschen Bahn zum Preis von rund 4500 Euro. Und: Für das Pendeln zwischen ländlichen Bezirken brächten die Netzkarten oft wenig bis gar nichts.

Nicht zu vergessen die Fehlanreize: Der Pauschalpreis vermehre unnötigen Verkehr, weil Reisen unternommen würden, die sonst aus Kostengründen unterbleiben würden, warnt Kummer. Diesen Einwand teilen auch andere Auskenner, insbesondere in den Verkehrsverbünden der Flächenbundesländer. Sie fürchten auf gut ausgelasteten Strecken wie der Südbahn noch mehr überfüllte Züge, als es sie jetzt schon gibt. Es fehle Rollmaterial, das Milliarden koste. (Luise Ungerboeck, 1.10.2021)