Analysierende Detektive: Mit 3D-Animationen, Interviewverfahren oder digitalen Architekturmodellen rekonstruiert das Kollektiv Gewaltverbrechen. Seine Arbeit brachte bereits Kriminelle hinter Gitter.
Foto: Forensic Architecture

Da soll noch jemand sagen, Kunstausstellungen können nichts verändern. Der auf der Whitney Biennal 2019 veröffentlichte Kurzfilm Triple-Chaser sowie ein Künstlerboykott führten zum Rücktritt des umstrittenen Vorstandsmitglieds des Whitney-Museums, Warren B. Kanders. Wie das ging? Die dokumentierte Recherche legte seine Nähe zu Waffenindustrie offen. Als CEO der Safariland Group war er an der Herstellung von Tränengasgranaten verantwortlich, das von Militärs gegen friedliche Zivilisten eingesetzt wurden. Migranten an der Grenze zu Mexiko oder Demonstrierende im Istanbuler Gezi-Park retten sich aus den toxischen Nebelschwaden.

Hinter der Aufdeckung steckte Forensic Architecture (FA). Die Investigationsagentur nützte ihre Einladung zu der New Yorker Kunstbiennale, um den kritischen Beitrag, der in Kooperation mit der Regisseurin Laura Poitras entstand, einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Mit offensichtlichem Erfolg. Um den globalen Einsatz der Safariland-Granaten nachzuweisen, entwickelte das Kollektiv ein eigenes Computerprogramm, das exakt diese Dosen auf Bildmaterial identifizieren kann. Dies konnte den Einsatz seitens staatlicher Einsatzkräfte weltweit beweisen. Ebenjener Film läuft nun beim Donaufestival, das heute, Freitag, in Krems startet.

Pakistan bis Pegasus

Doch wer ist FA? 2010 wurde die durch Förderungen finanzierte Agentur von dem Architekten Eyal Weizman an der Goldsmiths University London gegründet (ein zweiter Sitz wird in Berlin aufgebaut). Das etwa dreißigköpfige Team besteht aus Architekten, Software-Entwicklerinnen, Filmemachern, Journalistinnen, Künstlern, Forscherinnen und Anwälten, die mit NGOs und Aktivistengruppen wie Amnesty International kollaborieren.

Ihr Ziel: Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Diese oft seitens staatlicher Autoritäten verübte Gewalt dokumentieren sie und machen Nachweise zugänglich. Ihre Recherchen dienen als juristische Beweise in UN-Versammlungen und internationalen Gerichten und führten bereits zu Verurteilungen.

Die Agentur behandelt eine schockierende Bandbreite an Fällen: von US-Polizeigewalt, unmenschlichen Arbeitsbedingungen in pakistanischen Textilfabriken über Schiffsunglücke im Mittelmeer bis zum Skandal um die Abhörsoftware Pegasus. Ihre Einsatzorte sind Myanmar, Jemen oder Gaza, wobei sie – außer in Kriegsgebieten – immer auch versuchen, selbst vor Ort zu sein oder mit lokalen Personen zusammenzuarbeiten.

Hier bei der Arbeit an dem Projekt "Evros/Meriç River", das gemeinsam mit Zeugenaussagen illegale Push-Backs an der türkisch-griechischen Grenze rekonstruiert wurde.
Foto: Forensic Architecture

Kunstorte als Anheizer

FA nutzt auch (soziale) Medien, das Internet oder eben Kunstinstitutionen als Plattformen, um ihre Untersuchungen zu veröffentlichen. So erregte die Rekonstruktion des Mordes an Halit Yozgat durch den NSU bei der Documenta 2017 viel Aufmerksamkeit, wo sie nur wenige Hundert Meter von dem realen Tatort jenen Tathergang nachstellten. Als sie 2018 auf der Shortlist des wichtigen Turner-Preises standen, waren viele überrascht – auch das Kollektiv selbst. Dieses sieht ihre Detektivarbeit nicht per se als Kunst. Eher nützt sie deren Orte, um politische Debatten zu entfachen.

Mit speziellen Techniken wie Architektursoftware rekonstruieren sie Tatorte und bereiten Daten verständlich auf. Jedes Projekt benötige aber je nach Beweismaterial eine unterschiedliche Methode, erklärt Stefanos Levidis. Er ist als Forscher bei FA in Athen tätig. Dort war er an dem Projekt Evros/Meriç River beteiligt, das mit Human Rights 360 illegale Push-Backs von Migranten an der türkisch-griechischen Grenze aufdeckte.

Vorwurf Spionage

Da das militärische Gebiet um den Grenzfluss Aktivisten und Journalistinnen versperrt ist – somit eine Berichterstattung verhindert wird – und den Geflüchteten Telefone oft brutal abgenommen werden, gab es in diesem Fall wenig Fotomaterial sowie GPS-Daten. Das Team entwickelte ein eigenes Interviewverfahren namens "situated testimony", um anhand von Zeugenaussagen die Verbrechen nachzustellen. Durch konkrete Details erinnerten sich Betroffene wieder an Einzelheiten. Das Projekt ist noch bis 10. Oktober in der Gruppenschau This World Is White No Longer des Museum der Moderne im Rupertinum in Salzburg zu sehen.

Natürlich sei ihre Arbeit bei den "Tätern" nicht unbedingt beliebt, sagt Levidis und berichtet von Fake-News-Vorwürfen, auch seitens staatlicher Regierungen. Auch bei seinem Einsatz wurden Mitglieder des Kollektivs als "türkische Propagandisten" oder "Spione Erdoğans" bezeichnet. "Für uns ist das ein Zeichen, dass wir genau diejenigen nerven, die wir nerven sollten", sagt Levidis. Ihr Mittel gegen solche Angriffe ist pure Transparenz. All ihre Recherchen sind auf der Website kostenlos zugänglich. Die Beweise sprechen für sich. (Katharina Rustler, 1.10.2021)