Stefan Apostol (hier im Sommer 2018) war Vorsitzender des Schöffengerichts, das über einen 56-Jährigen richtete, der laut Anklage seine Stieftochter vergewaltigt haben soll.

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Wien – Im April 2021 berichtete DER STANDARD über einen Prozess gegen einen 56-jährigen Mann, dem vorgeworfen wird, seine Stieftochter vergewaltigt und sexuell belästigt zu haben. Nach der Mitteilung einer Leserin führte der Presserat dazu ein Verfahren durch und entschied, dass DER STANDARD mit dem Artikel "Prozess gegen Stiefvater um nicht geglaubte Vergewaltigungen" gegen die Punkte 5 (Persönlichkeitsschutz) und 6 (Intimsphäre) des Ehrenkodex für die österreichische Presse verstoßen hat.

Im Artikel wurde die öffentliche Vernehmung des Angeklagten teils wörtlich wiedergegeben und Aussagen eines Zeugen zitiert, in denen der Missbrauch an den beiden Stieftöchtern geschildert wird. Die Leserin sieht in dieser Berichterstattung den Opferschutz verletzt.

Gegenüber dem Presserat weist DER STANDARD darauf hin, dass die Opfer im Artikel nicht identifizierbar seien und somit der Persönlichkeitsschutz gewahrt bleibe. Vom Angeklagten wurden nur sein Vorname, der abgekürzte Nachname und das Alter angegeben. Die beiden mutmaßlichen Opfer wurden als "Stieftöchter" bezeichnet und hätten auch andere Nachnamen als der Angeklagte. Hier argumentiert der Senat 1 des Presserats, dass sich aus medienethischer Sicht die Identifizierbarkeit bereits aus den Begleitumständen ergeben könne und dabei die Nennung des Namens nicht unbedingt erforderlich sei. Die betroffenen Opfer seien – nach Auffassung des Senats – zumindest für einen beschränkten Personenkreis identifizierbar.

Öffentlicher Gerichtsprozess

Kritisiert wird vom Presserat auch die Beschreibung der vorgeworfenen Taten. Nach Auffassung des Senats sei die Veröffentlichung solcher Details geeignet, das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen zu vergrößern. Dabei spiele es keine Rolle, ob Details zum Tathergang in einem öffentlichen Gerichtsprozess zuvor erörtert wurden. In diesem Fall wurde die Öffentlichkeit vom Gerichtsprozess nicht ausgeschlossen. Das jedoch befreie "die Redaktion nicht von ihrer Verpflichtung, die Aussagen in der Verhandlung auf die Verletzbarkeit der Persönlichkeitssphäre der Opfer hin zu prüfen", so der Presserat. Die Opfer sollen "nicht damit rechnen müssen, dass ihre Zeugenaussagen vor Gericht dazu führen, dass Medien diese in allen Details wiedergeben".

Nach Ansicht des Presserats würden die detaillierten Schilderungen zum Ablauf des sexuellen Missbrauchs auch die Intimsphäre der Opfer verletzen, "unabhängig davon, ob die Betroffenen zum Zeitpunkt der Tat bereits volljährig waren". Das könne zu einer neuerlichen Belastung der Familienangehörigen der Opfer führen, "weshalb auf die Persönlichkeitssphäre der Angehörigen laut Presserat nicht ausreichend Rücksicht genommen wurde", heißt es in der Entscheidung. Der Presserat könne an diesem Bericht "kein legitimes Informationsinteresse" erkennen.

DER STANDARD akzeptiert diese Entscheidung des Presserats und hat den Bericht über diesen Gerichtsprozess geändert. Da der Presserat den Persönlichkeitsschutz mit dieser medienethischen Entscheidung weiter fasst als das Medienrecht, wird die Redaktion für künftige Fälle eine interne Diskussion führen. (red, 1.10.2021)