Armut, Hunger, Unterdrückung: Seit dem Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan und der Machtübernahme der radikalen Taliban herrscht bei vielen vor Ort Hoffnungslosigkeit. Besonders prekär ist die Lage für Frauen und Mädchen: Vielerorts können sie nicht mehr zur Schule, auf die Universität oder in die Arbeit. Das Frauenministerium wurde zum Ministerium der Laster und Tugend, mehrmals machten Afghaninnen ihrem Unmut vor dem Ministeriumsgebäude oder vor Schulen in Kabul Luft. Der STANDARD konnte drei Betroffene kontaktieren, die bereit waren, ihre Geschichte zu erzählen.

  • Modedesignerin, 22 Jahre: Die große Angst, einen der Taliban heiraten zu müssen
In den vergangenen Wochen protestierten Afghaninnen unter anderem vor dem ehemaligen Frauenministerium.
Foto: AFP / Bulet Kilic

Ich arbeite eigentlich als Modedesignerin in Kabul, doch seit die Taliban die Stadt erobert haben, gehe ich nicht mehr in die Firma. Auch wenn sie noch nicht viel gemacht haben, fühle ich mich draußen nicht mehr sicher. Angesichts dessen, was sie in der Vergangenheit getan haben, ist für mich klar, was noch kommen wird. Mode zu entwerfen ist für mich nicht unislamisch, aber ich möchte gar nicht wissen, was die Taliban von einer weiblichen Modedesignerin halten. Vermutlich wissen sie nicht einmal, was das für ein Beruf ist. Deshalb möchte ich nicht auf die Straße gehen, bis sich die Möglichkeit ergibt, das Land zu verlassen.

Ich hatte bis vor kurzem ein erfülltes Leben, ich will das wieder haben. Jetzt ist die Situation hier sehr deprimierend für Frauen und Mädchen. Selbst wenn uns physisch nichts getan würde, würden wir es psychisch nicht überleben. Auch wenn ich mein Bestes gebe, um mich zusammenzureißen: Ich bin erst seit einem Monat nur mehr zu Hause, aber ich werde jetzt schon verrückt. Du hast dein Leben, deine Ziele, und aus dem Nichts ist alles weg. Es ist, als würde dir jemand dein Baby wegnehmen. Wir würdest du dich dann fühlen?

Firma stillgelegt

Ich habe eine Modefirma gegründet. Als die Taliban Kabul eroberten, haben wir unsere Produkte versteckt und die Firma stillgelegt. Wenn ich darüber nachdenke, fühlt es sich an, als sei ich eine Kriminelle. Aber das bin ich natürlich nicht.

Ich bin Single, deshalb fühle ich mich noch gefährdeter. Meine größte Angst ist, für den Rest meines Lebens zu Hause leben zu müssen wie eine Gefangene. Oder einen Taliban heiraten zu müssen. Ich will noch nicht heiraten, aber wenn ein Mann mit einer Waffe in der Hand an deiner Tür anklopft, hast du keine Wahl mehr. Ich bin mal an einem der Taliban vorbeigegangen, und der Blick, den er mir zugeworfen hat, hat mir alles gesagt, er musste gar nicht reden. Der Blick war einfach nur furchteinflößend.

Dankbar für Facebook und Co

Ich bin sehr dankbar, dass es soziale Medien gibt. Wenn es Zwischenfälle gibt, erfährt man das dort rasch. Ich denke, das ist ein Grund, warum die Taliban vorerst nichts machen. Aber ich glaube, mit der Zeit werden sie Facebook oder Instagram zensieren oder sperren lassen.

Natürlich bin ich von den Ländern enttäuscht, die Afghanistan verlassen haben. Noch mehr aber bin ich von den muslimischen Ländern enttäuscht, weil sie ihre Stimme nicht gegen die Taliban erheben.

Mein großes Ziel in Afghanistan war immer, ein Modeinstitut zu eröffnen. Ich hatte das Glück, dass ich mir meinen Berufstraum erfüllen konnte, andere nicht. Ich habe mir immer vorgenommen, das auch anderen afghanischen Mädchen zu ermöglichen. Ich hatte bereits an einem Logo für mein Modeinstitut gearbeitet, hatte mich bereits als Lehrerin in einer Klasse voller junger, motivierter Mädchen gesehen. Dann kamen die Taliban. Kabul war einst das Paris von Zentralasien. Wir waren einmal so gut in Mode und Kleidung. Die Welt hat das aber vergessen.

  • Ehemalige Cafébetreiberin, 24 Jahre: Das Lokal zu, von der Universität ausgeschlossen
Ein Mitglied der Taliban spricht mit demonstrierenden Frauen in Kabul, während ein anderer versucht, ein Foto von der Szene mit seiner Hand zu verhindern.
Foto: AFP/BULENT KILIC

Vor drei Jahren habe ich in Kabul ein Café eröffnet, nach dem Machtwechsel haben die Taliban mich bedroht und mein Lokal geschlossen. Ich kann nicht mehr arbeiten, traue mich kaum noch, mein Haus zu verlassen. Ich studiere eigentlich noch Wirtschaftswissenschaften, aber ich kann nicht an die Universität, Frauen dürfen nicht studieren. Die Abschaffung des Frauenministeriums hat uns 25 Jahre zurückgeworfen.

Die Ideologie der Taliban basiert auf Extremismus und Islamismus, sie erlauben Frauen nicht, ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Das bereitet mir die meiste Sorge, neben Armut und Hunger, ebenfalls weit verbreitete Herausforderungen in Afghanistan.

In Kabul demonstrierten Frauen für ihre Rechte, das finde ich gut. Aber ich glaube nicht, dass sie etwas verändern werden, weil die Taliban sich nicht für den Protest und die Forderungen von Frauen interessieren.

Enttäuscht von der internationalen Staatengemeinschaft

Ich bin enttäuscht von der internationalen Gemeinschaft, sie müsste doch für die Schaffung von weltweitem Frieden verantwortlich sein. Die Vereinten Nationen müssen die Stimmen der gefährdeten Frauen hören.

Bevor die Taliban die Macht übernommen haben, war ich eine freie und unabhängige Frau, die ihre Träume und Ziele verfolgte. Ich war sehr glücklich mit meinem Leben, doch jetzt bin ich eine Gefangene, unterdrückt von den Taliban. Ich wünsche mir, das Land verlassen zu können. Wo ich als Frau mit meinen eigenen Gedanken und Einblicken nicht leben kann, ist es schwierig für mich zu überleben.

  • Aktivistin Najiba Sanjar, 44 Jahre: Von den Taliban bedroht, weil sie für Menschenrechte kämpfte
Najiba Sanjar hat mittlerweile ihr Heimatland verlassen.
Foto: Privat

Dank eines Freundes flüchtete ich mit einem Teil meiner Familie am 18. September nach Pakistan. Meine beiden Söhne konnten nicht mit, weil ihre Reisepässe abgelaufen waren. Wir mussten fliehen, sonst hätten wir es nicht mehr außer Landes geschafft. Wir haben unsere Söhne bei Verwandten weit weg von Kabul versteckt, bis wir ihre Reisepässe bei der Botschaft in Islamabad verlängern konnten. Dann haben wir es über mehrere Personen geschafft, ihnen die Reisepässe zu schicken, auch wenn es schwierig war. Am Mittwoch endlich sind meine Söhne hier angekommen. Wir sind nun alle sicher, deshalb will ich auch nicht anonym bleiben.

Wir wollen nicht in Pakistan leben, auch hier ist die Situation schwierig. Wir haben Asyl in Kanada und Deutschland beantragt, wir werden es auch in anderen Ländern probieren. Wo auch immer es uns hinverschlägt, wird es für uns einen Neustart geben – und der Gedanke, unser altes Leben aufgeben zu müssen und ein komplett neues Leben zu beginnen, tut schon sehr weh.

Bevölkerung gegen Menschenrechte

Ich habe zwölf Jahre als Menschenrechtlerin gearbeitet, habe vor allem jungen Menschen gewaltfreie Kommunikation und die Achtung und Unterstützung der Menschenrechte beigebracht. Das war ziemlich hart, denn ich habe in Taloqan in der Provinz Tachar das Büro des Schwedischen Komitees für Afghanistan (SCA) geleitet, in einer sehr konservativen Region. Viele Menschen, keine Taliban, meinten, Menschenrechte würden islamischem Recht widersprechen, vor allem Rechte für Frauen. Es war also eine ziemliche Herausforderung.

Ich wollte in Tachar bleiben, doch die Taliban waren dort auf dem Vormarsch. Ich wurde auch mehrmals bedroht, also zogen wir im Dezember 2020 nach Kabul, wo ich weiter für das SCA arbeitete. Es war schwierig, eine Zukunft zu planen. Aber wir dachten, wir hätten zumindest noch ein ganzes Jahr, um die Situation im Land zu analysieren und dann zu entscheiden, was wir machen.

Mit der Machtübernahme der Taliban wurde jede weitere Entwicklung im Land gestoppt. Ich weiß nicht, was sie genau vorhaben, aber die Zukunft sieht sehr düster aus. Die Armut wird steigen, viele werden hungern.

Korruption statt Armutsbekämpfung

Wir haben den USA und ihren Verbündeten vertraut, wir dachten nicht, dass sie Afghanistan im Stich lassen würden. Doch es ist der Fehler unserer Regierung gewesen, aus den Investitionen dieser Staaten nichts gemacht zu haben. Armut wurde mit den Hilfsgeldern nicht bekämpft, stattdessen war Korruption weit verbreitet.

Ich hatte so viele schlimme Erfahrungen mit den Taliban. Die schlimmsten waren die, als sie meinten, Frauen seien keine Menschen und nicht fähig, Führungsfunktionen auszuüben. Ich habe Jahre meines Lebens investiert, um zu studieren. Ich habe in Tachar ein Büro mit 1500 Mitarbeitern geleitet. Dann kommen sie und sagen dir: Du kannst nichts, du bist inkompetent. Und Frauen, die für ausländische NGOs arbeiten, halten sie für Prostituierte. Das hat richtig wehgetan. (Protokolle: Kim Son Hoang, Noura Maan, 3.10.2021)