Regelmäßig wurden bislang psychische Störungen bei 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung gefunden.

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Oft werde ich gefragt: Nehmen psychische Störungen wirklich beständig zu? Leben wir in einer Gesellschaft psychisch Kranker? Seit fast zwanzig Jahren finden sich in den Medien immer wieder alarmierende Meldungen über den Zuwachs psychischer Störungen, sie werden als die Epidemie des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Tatsächlich sind seit Mitte der 90er-Jahre psychische Störungen immer häufiger der Grund für Krankenstände und Invaliditätspensionen, woraus enorme volkswirtschaftliche Kosten entstehen.

Die dramatische Zunahme psychischer Störungen zeigt sich allerdings nur in den sogenannten administrativen Daten. Diese Routinedaten beinhalten die Diagnosen, die im Versorgungsalltag von den Leistungserbringenden, also Arztpraxen und Krankenhäusern, an die Krankenkassen übermittelt werden, und sagen damit mehr über die Diagnosegewohnheiten der professionell Tätigen als über die tatsächliche Prävalenz psychischer Störungen aus. Wenn heute Allgemeinmediziner psychiatrisch besser ausgebildet sind und neben den chronischen Rückenschmerzen auch die depressive Verstimmung erkennen, kommt es in den administrativen Daten zu einer Zunahme dieser Störung, ohne dass tatsächlich mehr Menschen depressiv sind.

Geringer Anstieg

Werden hingegen repräsentative Bevölkerungsstichproben untersucht, findet sich in den letzten 20 Jahren im deutschsprachigen Raum – wenn überhaupt – nur ein geringer Anstieg an psychischen Störungen. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie sind dabei allerdings noch nicht berücksichtigt. Regelmäßig wurden bislang psychische Störungen bei 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung gefunden.

Jede dritte bis vierte Person psychisch krank? Das klingt erschreckend. Genaueres Hinschauen lohnt sich: Allen Frances, einer der prominentesten Psychiater Amerikas, schätzt den Anteil der Menschen, die an einer schweren psychischen Störung leiden und die wir damit als "psychisch krank" definieren können, mit fünf Prozent ein. Diese Betroffenen können wir präzise diagnostizieren und nach empirisch gesicherten Leitlinien behandeln. Für die übrigen 20 Prozent, die ebenfalls die Diagnosekriterien einer psychischen Störung erfüllen, gilt dies nicht im selben Ausmaß.

Schmaler Grat

Allen Frances formuliert, dass die "Grenze zur Normalität dicht besiedelt ist" und hier enorme Unschärfen bestehen. So ist zum Beispiel die Wirksamkeit einer antidepressiven Medikation bei leichten depressiven Verstimmungen bis heute noch nicht zweifelsfrei bewiesen. In all diesen Fällen ist eine individualisierte Vorgehensweise nötig, um das optimale Therapieangebot zu finden. In jedem Einzelfall muss entschieden werden, ob ein Antidepressivum und/oder eine psychotherapeutische Behandlung sinnvoll ist oder ob einfach abgewartet werden kann.

Was bedeutet diese Einschätzung für die Allgemeinheit? Psychische Störungen sind weiter verbreitet als früher angenommen. Das gesellschaftliche Bewusstein für Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit ist, nicht zuletzt durch die zunehmende Entstigmatisierung psychischer Störungen, gestiegen. Hinzu kommt, dass – wie auch in anderen Bereichen der Medizin (denken Sie an Blutdruck und Blutfette) – die "Schwellenwerte" gesenkt wurden, wodurch immer mehr Menschen die Diagnosekriterien einer psychischen Störung erfüllen.

Ein Grund für Alarmismus ist das nicht – wohl aber ein Anlass, sich über individuell und gesellschaftliche wirkende negative Einflüsse auf die psychische Gesundheit Gedanken zu machen. (Elisabeth Wagner, 5.10.2021)