Wenn Gerry Friedle über DJ Ötzi redet, dann erinnert das ein bisschen an den "unglaublichen Hulk". In dem weltbekannten Comic bekommt der unscheinbare Wissenschafter Bruce Banner eine zweite Persönlichkeit: den grünen, fast unbesiegbaren Hulk. DJ Ötzi, bekannt für Lieder wie "Ein Stern (der deinen Namen trägt)", ist kein grünes Monster. Aber er ist quasi das mutigere Alter Ego des zurückhaltenden Gerry. "DJ Ötzi und ich, wir sind eins", sagt Friedle. "Aber wenn ich die Haube aufsetze, dann hab ich mehr Kraft."

DJ Ötzi ist der erfolgreichste Musiker Österreichs, zumindest der lebenden. Er hat mehr Platten verkauft als Falco, stand an der Spitze der UK-Charts. Seine Version von "Sweet Caroline" läuft noch heute in US-Sportstadien. Nach 22 Jahren auf der Bühne hat er jetzt nicht nur ein neues Album herausgebracht (Sei Du selbst), sondern auch eine Autobiografie geschrieben (Lebensgefühl, ET 19. Oktober). Dafür musste er, bildlich gesprochen, erst einmal aufräumen. Mit den 22 Jahren auf der Bühne und all denen davor.

Der Stanglwirt ist ein weitläufiger Gastronomiebetrieb am Fuß des Wilden Kaisers im Bezirk Kitzbühel. Traditionell findet hier nach dem Hahnenkamm-Rennen eine Promi-Weißwurst-Party statt, und so schaut das alles auch ein bisschen aus. DJ Ötzi steigt seit 20 Jahren in dem Hotel ab. Er möge die Philosophie des Hauses. "Dass immer etwas dazugebaut wird, aber so organisch, dass das Gesamtbild erhalten bleibt."

GERRY FRIEDLE ALIAS DJ ÖTZI Fototermin beim Stanglwirt in Tirol. Friedle mag den Ort, weil er sich organisch entwickelt, ohne jemanden zu verärgern. Ein bisschen wie er.

Foto: Niko Ostermann

Es ist Montagnachmittag. Friedle sitzt mit seiner dreiköpfigen Entourage – darunter seine Frau und Managerin Sonja – in seinem Hotelzimmer. Unten auf der Straße stehen dicke Autos mit Münchener Kennzeichen hinter einer Kuhherde im Stau. Friedle ist gut gelaunt, lacht, tirolert fröhlich vor sich hin. Als er ein Zeichen bekommt, dass das Licht jetzt gut für ein Foto sei, stürzt er zum Balkon. Und kommt lächelnd zurück, als es sich das Licht innerhalb von einer halben Minute wieder anders überlegt.

DJ Ötzis Gelassenheit ist nicht gespielt. Er schafft aktuell etwas, das gar nicht so vielen Männern gelingt: Er altert in Würde. Heute, mit 50 Jahren, wirkt er so bei sich angekommen wie nie zuvor.

Politik, Geschichte, Liebe

Gerry Friedle ist ein Mann, der gleichzeitig ein bisschen zu einfach und ein bisschen zu kompliziert für diese Welt ist. Zu einfach, weil er ein fast naives Bedürfnis hat, ein guter Mensch zu sein. "Ich hab keine schlechte Absicht. Ich will, dass es den Leuten gutgeht", sagt er. Seine Musik ist noch immer eingängig, die Textbotschaften simpel ("Fang nie an aufzuhören, dich zu lieben"). Ginge es nach DJ Ötzi, dann würden morgen alle besser und achtsamer mit sich selbst und dem Gegenüber umgehen als heute. So schwierig kann das ja nicht sein.

Zu kompliziert ist Friedle, weil er dann doch viel mehr nachdenkt und zweifelt, als es Zeilen wie "Hey, hey Baby! Uh-ah" vielleicht vermuten lassen würden. In einem anderen Leben hätte er die Matura gemacht und Theologie und Philosophie studiert. Er würde "die Welt gerne besser verstehen" und warum die Menschheit "nicht aus ihren Fehlern lernt". Es macht ihm Spaß, über solche Dinge zu reden. Er hat etwas zu sagen, und es schmeichelt ihm sicher auch, dass man ihm jetzt anders zuhört als früher. Dass die Leute sich zunehmend auch dafür interessieren, was unter der Haube ist. Die "Zeit", die "Süddeutsche Zeitung", sie alle waren in den letzten Jahren bei ihm, was in dem Gespräch auch mehrfach erwähnt wird. Friedle gerät ins Philosophieren, redet über Politik, Geschichte, die Liebe. Zwischendurch bringt ihm ein Kellner einen Schweinsbraten aufs Zimmer, was aber auf einer Terminkollision beruht und Friedle sichtlich unangenehm ist.

Gerry Friedle – ein Mann, der gleichzeitig ein bisschen zu einfach und ein bisschen zu kompliziert für diese Welt ist.
Foto: Niko Ostermann

Nun ist es prinzipiell nicht bemerkenswert, dass DJ Ötzi kein dummer Mann ist. Hinter simplem Entertainment stehen oft kluge und/oder komplizierte Menschen. Aber viele Entertainer kompensieren die Diskrepanz zwischen ihrer öffentlichen und privaten Rolle mit Zynismus. Friedle ist das Gegenteil von zynisch. Jeder in der Musikszene mag "den Gerry", niemand verliert auch nur ein böses Wort, selbst wenn er mit der Musik nichts anzufangen weiß. Friedle ist immer freundlich, will es allen recht machen, fühlt Verantwortung für seine Fans. "Ich will einfach, dass die Leute eine geile Zeit haben, wenn sie meine Musik hören", sagt er. "Ich will, dass sie bei mir abschalten können." Nur ganz selten blitzt bei ihm so etwas wie eine dunkle Seite durch. Wobei "dunkel" dann auch nur bedeutet, dass er sich genau gemerkt hat, wer damals nicht an den Erfolg von Hey Baby! geglaubt hat und heute darüber referiert. Aber diese Person öffentlich bloßzustellen, das wäre dann doch nicht seine Sache.

Verschiedene Rollen

Die Zwangspause, die ihm die Pandemie bescherte, hat Friedle gut genutzt. Er hatte Zeit, sich mit sich selbst und seiner Musik zu beschäftigen. Für so etwas habe er früher nicht die Muße gehabt. Er sei ja immer im Stress gewesen, immer unterwegs. "So richtig spüren und annehmen kann ich meinen Erfolg erst seit ein oder zwei Jahren." Früher, als er von Selbstzweifeln und Depressionen zerfressen war, da sei das unmöglich gewesen. "Check doch mal, dass du 16 Millionen Platten verkaufst. Dass dich sehr viele Leute gern haben, aber im Gegenzug auch sehr viele Leute bewerten." Das sei zu viel für einen normalen Menschen. Wahrscheinlich vor allem für einen sensiblen wie ihn.

NEUE FREIHEIT Ginge es nach DJ Ötzi, dann würden morgen alle besser und achtsamer mit sich selbst und dem Gegenüber umgehen als heute.
Foto: Niko Ostermann

Für das Buch hat er sich in die Aufarbeitung hineingeworfen, privat wie beruflich. Das führt auch dazu, dass die Grenzen zwischen DJ Ötzi und Gerry Friedle noch mehr verschwimmen. Auf seinem neuen Album findet sich ein Song namens Nach all den Jahren, in dem er seinem Vater – der ebenfalls DJ, aber anders als Gerry nicht für seine Familie da war – vergibt. Wobei ihm das Wort Versöhnung besser gefällt, Vergebung klinge so hochmütig.

Auf der Couch im Stanglwirt trifft man an diesem Montag auf einen Mann, der offenbar gerade mit vielem ins Reine kommt. Auch mit "dem Anton", dem aus Tirol, der ihn groß gemacht hat. Friedle redet über ihn wie über einen alten Bekannten, dem man zu viel zu verdanken hat, als dass er einem peinlich sein könnte. Er verstehe erst heute, was Anton aus Tirol in den Leuten bewirkt habe. "Vielleicht hat es sie motiviert, wenn sie ‚Ich bin so schön, ich bin so toll‘ gesungen haben. Ihnen psychologisch einen Schub gegeben." Der Gedanke gefällt ihm.

Das innere Kind

Wenn DJ Ötzi aka Gerry Friedle aka Anton aus Tirol über die verschiedenen Rollen in seinem Leben spricht, dann verpackt er das gerne in Bilder, damit man es besser verstehen, besser mitfühlen kann. Vor knapp 20 Jahren, ganz am Anfang der Karriere, da saß der Gerry beispielsweise im Keller, während der Anton im Penthouse feierte. Es sei die große Aufgabe seines Leben gewesen, diese Rollen zusammenzuführen, sagt Friedle.

"Ich bin sehr weit damit, meinen Frieden mit mir selbst zu machen. Ich habe viele graue, unschöne Bilder bunter machen können."

Gerry Friedle über seine Kindheit

Heute hat er das halbwegs geschafft. Es ist Platz für Gerry, für DJ Ötzi, für Anton. Und auch für sein inneres Kind, das im winterlichen Tirol morgens Milch holen muss und dabei singt, um die Angst vor der Dunkelheit besser ertragen zu können. Dieses innere Kind, das dürfe er "jetzt nah bei sich haben", so drückt es Friedle aus.

Ameisenkribbeln

Von seinem Leben vor DJ Ötzi waren nur Bruchstücke bekannt, das ändert sich jetzt mit seiner Autobiografie. Manches, was man zu wissen glaubte, wackelt bei kritischer Betrachtung ein wenig. Der "Karaokewettbewerb", bei dem Friedle entdeckt worden sei, war ein einfaches Karaokesingen. Seine Obdachlosigkeit war eine dreimonatige Phase der Verlorenheit, in der er sich nicht heimtraute und überall schlief, auch unter freiem Himmel. Aber das ist alles auch ein bisschen wurscht. Es ist Showbusiness. Und die Grundstory, die von einem traurigen Tiroler zu einem Menschen, der auf der Bühne Freude verbreitet, die hält.

Friedle wird 1971 in kein einfaches Leben hineingeboren. Seine Mutter ist noch minderjährig und gibt ihn zu Pflegeeltern. Sein Vater holt ihn irgendwann zu sich, Gerry wächst bei seinen Großeltern auf. Die Oma ist liebevoll, der Opa autoritär. Als Kind leidet er an Krankheiten und dem Mangel an Erfolgserlebnissen ("Ich war nie gut in irgendwas"). Mit 16 Jahren reißt von zu Hause aus, macht eine Kochlehre. Als er irgendwann beim Karaoke auf der Bühne steht, spürt er das Kribbeln, "die Ameisen", in seinem Körper. "Das kannte ich bis dahin nur von meinen epileptischen Anfällen", sagt er. "Es war das erste Mal, dass ich mit dem Kribbeln etwas Positives verbinden konnte." Er beginnt, in Bands zu spielen, als DJ zu arbeiten. Der Junge will es wissen, macht Dampf bis halb sieben in der Früh, weil er hofft, entdeckt zu werden. Ein Arbeitskollege rät ihm, doch "den Anton aus Tirol" zu machen. Den Song gibt es zu diesem Zeitpunkt schon, es braucht nur jemanden, der ihn ausfüllen kann. "Drei Monate hab ich es abgelehnt", erinnert sich Friedle. Er will eigentlich Rockmusik machen. Irgendwann fährt er aber doch mit seiner Agenturchefin nach Wien. Er zündet drei Kerzen im Stephansdom an, lässt sich seinen Bart schneiden und singt elf Stunden Anton aus Tirol ein. Der Rest ist Geschichte.

Im Reinen

Genau in diese Geschichte hat sich Friedle in den letzten Monaten hineingestürzt. "Ich bin sehr weit damit, meinen Frieden mit mir selbst zu machen", sagt er. "Ich habe viele graue, unschöne Bilder bunter machen können." Heute gehe er viel freier in die Zukunft. Diese Leichtigkeit spürt man auch. DJ Ötzi treibt Schabernack auf Tiktok ("Dort denke ich keine Sekunde an meine Wirkung, sondern mache nur, was mir Spaß macht") und nimmt sich auch sonst auf eine Weise nicht ernst, wie es nur geht, wenn man ganz gut mit sich selbst leben kann.

Seinen Erfolg könne er erst seit zwei Jahren so richtig spüren und annehmen.
Foto: Niko Ostermann

Vielleicht gefällt DJ Ötzi die Philosophie des Stanglwirts so gut, weil er selbst so sein möchte: sich organisch verändern, ohne jemanden dadurch wegzustoßen und zu enttäuschen. Deshalb singt er noch immer den Anton aus Tirol, auch nach über 20 Jahren. "Damit aufzuhören, das wäre fast schon Verrat", sagt Friedle. "Wenn ich das loslassen würde, was mich groß gemacht hat, dann würde ich mich abgehoben fühlen. Davor hab ich Angst, das will ich nicht." Es ist still im Raum, die Pommes neben dem Schweinsbraten sind kalt geworden. Es war viel zu sagen. "Ich will bei mir sein. Momentan fühle ich mich sehr bei mir, und das tut mir gut."

Hat er je daran gedacht, aufzuhören? 15 Sekunden Pause. "Ich hab den Gedanken nicht oft, aber ich hatte ihn schon mal bei mir", sagt Friedle schließlich. Aber letztlich sei die andere Seite immer stärker gewesen. "Nicht nur, weil es mir Spaß macht und ich noch viel vorhabe. Ich denk mir auch manchmal: Was, wenn alles, was ich bis jetzt erlebt hab, nur der Anfang gewesen wäre?"

Vom Balkon kommt wieder ein Zeichen. Das Licht ist jetzt gut, und der Mann, der immer ein bisschen der Anton aus Tirol bleiben wird, springt Richtung Tür. Kurz streckt er noch einmal den Kopf rein. Ohne Haube, denn jetzt ist er gerade Gerry Friedle, das kann er sich ja endlich erlauben. "Die Leute sollen mir sagen, wenn sie genug von DJ Ötzi haben. Dann hör ich auf." (Jonas Vogt, 2.10.2021)