Eine Woche nach der Bundestagswahl beginnen am Sonntag SPD und Union die Beratungen über die Bildung der künftigen Regierung – jeweils mit Vertretern der Grünen und FDP. Das SPD-Verhandlerteam um Kanzlerkandidat Olaf Scholz trifft die beiden kleineren Parteien getrennt am Sonntag, einmal um 15.30 Uhr, einmal um 18 Uhr. Verhandler der Union um Kanzlerkandidat Armin Laschet beraten sich am Sonntagabend ab 18.30 Uhr mit der FPD, am Dienstag folgen Gespräche mit den Grünen. PR-Profi Klaus Kocks gibt Tipps zum Anbandeln einer Koalition.

1. Der Ort: Liebesnest ohne lästige Spanner

Wo Menschen einander treffen, um über heikle Angelegenheiten wie Deutschlands neue Regierungskoalition zu verhandeln, sei ziemlich egal, sagt Klaus Kocks. Einzig: Diskret muss der Schauplatz der Gespräche schon sein. Dass sich dafür das Hinterzimmer besser anbietet als die Sonnenterrasse mit freier Schussbahn für Paparazzi, liegt auf der Hand. Ein wenig ist es bei Sondierungsgesprächen wie bei einem frischverliebten Paar, das sich erst einmal im Geheimen trifft, bevor es die Freunde erfahren. Sie brauchen ein "hideaway".

Der mächtigste Feind geheimer Verhandlungen ist schließlich die Öffentlichkeit – und er schläft nicht, wie den Sondierungsteams der Grünen und der FDP vergangene Woche in Berlin vor Augen geführt wurde: "Wir haben eine Situation, wo die Verhandelnden von den Medien regelrecht gejagt werden", sagt Kocks. "Ein Boulevardblatt hatte den Ort der eigentlich für Mittwoch geplanten ersten Sondierungsrunde herausgefunden, weshalb dann eilig schon am Dienstag gesprochen wurde."

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FDP-Chef Christian Lindner und die Grünen-Chefs Robert Habeck und Annalena Baerbock müssen trotz aller Gegensätze einen gemeinsamen Nenner finden.
Foto: Reuters / Annegret Hilse

Schon bei den letzten Verhandlungen zwischen Grünen und FDP 2017, als Liberalenchef Christian Lindner den schon fast fertigen Jamaika-Pakt mit Union und Grünen platzen ließ, wurden immer wieder geheime Details aus den Verhandlungen bekannt. Vorsicht, so PR-Profi Kocks, ist deshalb die Mutter der grün-gelben Porzellankiste.

2. Vertrauen: Dem anderen auch einmal Freiraum gönnen

Was tun, wenn zwei Parteien miteinander verhandeln, die einander im Grunde überhaupt nicht riechen können? Was es braucht, um Vertrauen zwischen zwei sehr gegensätzlichen Partnern zu schaffen, sei eine "gemeinsame heimliche Liebe", sagt Kocks.

"Die beiden Parteien, die nun über einen möglichen Eintitt in eine Koalition verhandeln, kommen aus völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die Grünen stammen aus einem sehr linken, kollektivistischen Milieu, das sie aber zum Großteil hinter sich gelassen haben. Und die FDP war lange eine ordoliberale Partei, die auf größtmögliche Individualität des Menschen und eine freie Marktwirtschaft setzt."

Dass sich beide in den vergangenen Jahren eine Frischzellenkur verpasst haben, könnte ihnen dabei helfen, sich einander anzunähern, glaubt Kocks. "Die FDP ist nicht mehr die Altherrenpartei von früher, sondern wird heute von besonders vielen Erstwählern gewählt. Und die Grünen müssen nicht mehr mit ihren linksradikalen Wurzeln kämpfen, sondern sind begehrtes Objekt des konservativen Mainstreams. Das bringt beide Parteien in eine völlig neue Rolle. Sie können einander dabei helfen, die neue Identität Wirklichkeit werden zu lassen." Gehen sie gemeinsam in eine Koalition, könnten sowohl Liberale als auch Ökos ihre "hidden agenda", ihre geheime Liebe also, vor den Augen aller zum Leben erwecken.

3. Persönliches Klima: Mehr als nur Luft und Liebe

Persönliche Abneigungen zwischen den Verhandlerinnen und Verhandlern der Grünen einerseits und jenen der FDP andererseits spielen in der Praxis eine kleinere Rolle, als man meine, sagt PR-Zampano Kocks. "In der Politik gibt es heutzutage ohnehin keine Liebesheirat. Und wenn doch wer davon spricht, betreibt er Propaganda oder lügt."

Wenn heute die beiden kleineren Parteien vorsondieren, um herauszufinden, ob sie gemeinsam in eine Koalition mit einer der beiden größeren Parteien, SPD oder Union, gehen wollen, stellt das für Kocks einen Paradigmenwechsel dar: "Wir stehen nun vor einer völlig neuen Situation, in der sich die Juniorpartner ihren Seniorpartner wählen."

Das inzwischen berühmt gewordene Foto, das die Verhandlerteams von Grünen und FDP in trauter Viersamkeit zeigt, stößt dem PR-Berater Kocks dann doch eher sauer auf.
Foto: APA / FDP / instagram / Volker Wissing

Übersetzt ins Alltagsleben heiße das: "Zum ersten Mal suchen sich die Kinder ihre Eltern aus und nicht umgekehrt. Die Kinder können nun zwischen Vater Olaf und Vater Armin wählen. Dafür gibt es keine Rollenvorbilder, weder in der Politik noch in Patchworkfamilien."

Das inzwischen berühmt gewordene Foto, das die Verhandlerteams von Grünen und FDP in trauter Viersamkeit zeigt, stößt dem 69-jährigen Kocks dann doch eher sauer auf. "Diese neue Situation beseelt die Verhandler offenbar so sehr, dass sie ein Foto aufnehmen, das ich sonst eher 13- bis 16-Jährigen zugetraut hätte. Ein Selfie, wo sich vier Erwachsene fotografieren wie Teenager nach ihrer ersten Party."

4. Rote Linien: Klug platzierte Fallstricke wirken Wunder

Da ist sie auch schon, die erste Hürde, über die Verhandlerinnen und Verhandler springen müssen – oder auch nicht: Immer wenn es bei Verhandlungen um etwas geht, wenn sich A und B des Pudels Kern nähern, ziehen Politikerinnen und Politiker prompt rote Linien. Damit wollen sie ihrem Gegenüber Stärke und Entschlossenheit demonstrieren.

Eigentliche Adressatin solcher ultimativer Botschaften sei aber nicht etwa der Verhandlungspartner oder die Öffentlichkeit, sondern die eigene Gefolgschaft, sagt Klaus Kocks. "Die Linien, die nicht überschritten werden dürfen, sind solche, bei denen die Führung wirklichen Ärger mit ihrer Parteibasis riskiert."

Es gehe dabei nicht um Gesinnungslinien zwischen den Charakteren, sondern um die Angst vor einer Rebellion an der eigenen Basis – und die Sorge, dass der neugewählte Partner einen dort in Schwierigkeiten bringen könnte. "Bei den Grünen gilt das Ökoprimat, bei den Liberalen jenes der Individualität. Wo sie einander in Situationen bringen, in denen die eigene Basis rebelliert, werden Einigungen schwierig." Die österreichischen Grünen wissen davon ein Lied zu singen.

5. Bluffen: Ohne hässliche Bilder wird es nicht gehen

Zum ersten Mal suchen sich die kleineren Parteien den großen Koalitionspartner aus und nicht umgekehrt.
Foto: AFP / John MacDougall

Wer beim Verhandeln die Oberhand gewinnen will, muss mit einer hässlichen Alternative drohen können, sagt Klaus Kocks. Wofür der ÖVP hierzulande im Wettstreit mit dem grünen Juniorpartner die FPÖ dient, hätte für die SPD in Deutschland Rot-Grün-Rot sein können. Doch die Fünfprozenthürde machte dem roten Elefanten im Raum den Garaus. Die Linke, die während des Wahlkampfes mal mehr, mal weniger offensiv für ein Bündnis mit SPD und Grünen geworben hatte, schafft den Einzug in den Bundestag nur ihrer Direktmandate wegen.

"Nun ist Jamaika für die FDP eine Drohkulisse, weil die Koalition mit der Union und den Grünen bei der liberalen Basis das gewolltere Bündnis ist", erklärt Kocks. Die Grünen hingegen haben, von der erneuten großen Koalition im Bund oder gar Neuwahlen abgesehen, nicht allzu viel in der Hinterhand, mit dem sie drohen können.

6. Verlässlichkeit: Keine bösen Überraschungen

Grüne und FDP müssten ein Klima schaffen, in dem der andere keine erhöhte Bereitschaft hat, einen Verrat zu begehen, erklärt Verhandlungsprofi Kocks. Aus seiner Sicht spricht viel dafür, dass es diesmal klappt zwischen Ökos und Liberalen. "Lindner ist ein wendiger, gereifter Liberaler, sein Co-Verhandler Volker Wissing hat Erfahrung mit einer Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz." Auf der anderen Seite sei der Burgfrieden zwischen Grünen-Chef Robert Habeck und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock nach wie vor fragil. Beide wollten nicht von einem Dritten vorgeführt werden.

Warum jetzt klappen soll, was vor vier Jahren scheiterte? "Wenn Lindner noch einmal kneift, ist er politisch tot." Und wenn es dann für die grün-gelben "Geschwister" dereinst darum geht, ihren Vater, mag er nun Scholz oder Laschet heißen, um den Finger zu wickeln, sind sie auf jeden Fall gut aufgewärmt. (Florian Niederndorfer aus Berlin, 3.10.2021)